Sie ist sechs. Catherine weiss, wie ein Spital aussieht. Da gibt es Babys, freundliche Gesichter, und wenn man hingeht, bringt man Blumen. Aber Mamis Spital hat schwere Riegel an der Zimmertür, und die Leute auf dem Gang machen ihr Angst. Mami sei im Spital, hat die Oma gesagt. Das Gesicht voller Kummer. Kummer wegen Mami. Weil Mami an manchen Tagen die Fensterläden geschlossen lässt. Und weil sie an anderen Tagen mit Fremden bis in den Morgen feiert. Deshalb wohne Mami im Spital, hat Oma gesagt. Catherine weiss, dass es kein normales Spital ist.
 

Catherine Duvaliers* Mutter litt an einer bipolaren affektiven Störung. «Für mich hiess das, ein Mami zu haben, bei dem man nie wissen konnte, was als Nächstes passiert.» Heute ist sie 50. Sie sitzt im Café. Ihre Sätze wählt sie mit Bedacht. Sie dreht die Cappuccino-Tasse vor sich. Weiter. Immer weiter. Und erinnert sich.
 

Sie ist neun. Catherine kommt am Mittag von der Schule. Mami ist hektisch, kocht für Freundinnen. Pfannen stehen auf dem Herd. Sie sind leer.

Sie ist zehn. Der Papa ist weg. Die Ehe zerbrochen. Mami hat es mit Rasierklingen am Hals versucht. Eine Zeitlang wohnen Catherine und ihre Schwester bei der Oma.
 

«Ich weiss nicht, ob das meine Erinnerungen sind oder Bilder, die mir aus Gesprächen mit meinem Vater geblieben sind. Wer meine Mutter damals im Badezimmer gefunden hat, kann ich nicht sagen.» Ganz schlimme Sachen blendet das Gehirn aus. Catherine Duvalier erzählt weiter. Den Blick auf dem Tisch, in den Gedanken in ihrer Kindheit. Mit bösen Erinnerungen kennt sich die 50-Jährige aus. Nicht nur den eigenen. Heute leitet sie Gesprächsrunden bei der Zürcher Vereinigung für Angehörige von psychisch Kranken.

Jede dritte Person in der Schweiz leidet einmal im Leben an einer psychischen Krankheit. Das kostet nicht nur beunruhigende elf Milliarden Franken pro Jahr. Es kostet Kinder, wie Catherine Duvalier es einmal war, ein Stück ihrer Kindheit.

Es sind viele Kinder. 22 Prozent der behandelten psychisch erkrankten Personen in Winterthur hatten mindestens ein minderjähriges Kind zu Hause, zeigte 2006 eine Studie. Bei zwei Millionen psychisch erkrankten Personen – ein Drittel der erwachsenen Schweizer Bevölkerung – sind das hochgerechnet mindestens 440'000 Kinder, die mit einer kranken Mutter oder einem kranken Vater aufwachsen. Konservativere Zahlen zeigen 4000 Kinder im Kanton Zürich. Von vielen Kindern in der ganzen Schweiz wissen sie aber nichts. Kinder, wie es Catherine Duvalier und ihre Schwester einmal waren.

Depressive Frau

Mutter schläft nicht mehr, trinkt literweise Kaffee, raucht zwei Packungen am Tag.

Quelle: Kornel Stadler

Sie ist dreizehn. Am Montag war die Mutter mit der Schwester auf der Chilbi. Einfach so. Obwohl Schule war. Ihre Schwester hatte Angst. Catherine hatte Angst. Sie hat die beiden überall gesucht.
 

Die Nachbarn wussten Bescheid. Da war das eine Mal, als die Mutter in einer manischen Phase die Möbel vom Balkon warf. Auch Catherine Duvaliers Lehrerinnen ahnten etwas. Die Schule war für sie nicht einfach. 

«Wir hörten sie natürlich. Die Sprüche über das gelbe Wägelchen, das dich holen kommt, ‹wenn d’ spinnsch›. Aber offen über die Krankheit gesprochen hat niemand Depression Soll man mit den Kindern darüber sprechen? . Mein Vater nicht, meine Oma nicht. Meine Schwester und ich sowieso nicht. Mutter hatte Angst, dass wir ins Kinderheim müssen. Damit hat sie immer gedroht. Bei Vater konnten wir nicht wohnen, er arbeitete zu viel.»

Catherine Duvalier und ihre Schwester mussten selber schauen, wie sie mit der Krankheit der Mutter umgingen. Wie die meisten Kinder psychisch kranker Eltern. Unterstützung erhalten sie erst, wenn sie selbst verhaltensauffällig werden oder psychische Störungen entwickeln.

Dann ist es zu spät. Das sagt Alessandra Weber, Geschäftsführerin des Instituts Kinderseele Schweiz in Winterthur. «Kinder wie Catherine Duvalier sind überdurchschnittlich gefährdet, später einmal selber krank zu werden. Wenn das Mami psychisch belastet ist, kann das für ein Kind sehr belastend sein. Möglicherweise fehlen positive Verhaltensmuster Verwahrloste Kinder «Wer weiss, was aus ihnen geworden wäre» . Oder es fehlt die enge Bindung zur Mutter. Oft fehlt es an Stabilität und an Halt. Viele spätere Erkrankungen liessen sich verhindern, wenn man diese Kinder früher unterstützen würde.»

Das Institut Kinderseele Schweiz (IKS) wurde gegründet, weil die oben genannte Studie aus Winterthur 2006 Lücken in der Behandlung von Kindern psychisch kranker Eltern feststellte. In der Schweiz werden Mütter oder Väter in der Erwachsenenpsychiatrie therapiert, auffällige Kinder in der Kinderpsychiatrie Kinderpsychiatrie Kein Platz für psychisch kranke Kinder . Dass die Kinder auffällig sind, weil ihre Eltern psychisch erkrankt sind, wird selten zur Kenntnis genommen. Erwachsenenpsychiatrie und Kinderpsychiatrie funktionieren aneinander vorbei. Kranke Familien finden keinen Platz. 

Das IKS setzt sich schweizweit dafür ein, dass das «System Familie» therapiert wird. Und dafür, dass ein Netz aus Anlaufstellen gesunde Kinder psychisch kranker Eltern auffängt.
 

Sie ist sechzehn. Mutter sagt, es gehe ihr besser. Die Medikamente brauche sie nicht mehr. Catherine und ihre Schwester sorgen sich. Mutter schläft nicht mehr, trinkt literweise Kaffee, raucht zwei Packungen am Tag. Ihre Augen werden seltsam. Sie spricht plötzlich nur Französisch, ihre Muttersprache, kleidet sich violett. Die Schwestern rufen den Arzt.

Sie ist siebzehn. Nach der Klinik geht es Mutter besser. Für kurze Zeit. Es folgen die depressiven Phasen. Mutter ist abgelöscht, nur noch leere Hülle. Sie schleppt sich durch den Tag, verbringt Nachmittage im Bett. Draussen sitzen die anderen Mütter mit ihren Töchtern an der Sonne.
 

Es dauerte bis 2013 – erst dann erkannten auch Bund und Kantone, dass man die Situation für Risikokinder verbessern und präventiv gegen die hohen Kosten psychischer Krankheiten vorgehen muss. Im Rahmen der Strategie Gesundheit 2020 rücken nun langsam auch Risikokinder in den Fokus. Programme und Institutionen wie Kinderseele Schweiz können jetzt mit finanzieller Unterstützung rechnen. 

Das ist wichtig. Krankenkassen weigern sich bis heute, die Therapie gesunder Kinder zu bezahlen. Ohne die Diagnose «psychisch krank» gibt es kein Geld. Kind einer psychisch kranken Mutter zu sein ist nicht genug. 

Die Situation ist verfahren. Ob Risikokinder auf solche Therapieangebote zurückgreifen können, kommt auch auf den Wohnkanton an. Nicht alle sind so gut abgedeckt wie der Kanton Zürich mit dem Institut Kinderseele Schweiz. 

Oder wie die Ostschweiz. In St. Gallen, den beiden Appenzell und dem Fürstentum Liechtenstein arbeitet das Ostschweizer Forum für Psychische Gesundheit daran, die Lage von Kindern psychisch kranker Eltern zu verbessern. «Kinder im seelischen Gleichgewicht» heisst das Projekt. Mit Hilfe eines Online-Tools soll schnell ein geeignetes Angebot gefunden werden. Mit dem Tool soll auch erkannt werden, welche Angebote fehlen.

Niederschwellige Angebote für Risikokinder gibt es in der Ostschweiz einige. Bis jetzt werden sie aber oft nicht gefunden.

Es braucht manchmal nur wenig, um die Situation von Risikokindern zu verbessern. Sagt Jürg Engler vom Ostschweizer Forum für Psychische Gesundheit. Einen Mittagstisch zum Beispiel. Oder ein Gotti, das bei den Hausaufgaben hilft. Einen Nachbarn, der der Familie den Einkauf abnimmt. Es gibt aber auch Kinder, die mehr brauchen. «Entscheidend ist, dass die Kinder merken, dass sie nicht alleine sind», sagt Jürg Engler. «Dass sie verstanden werden. Und dass sie eine Normalität leben können.»

Sie ist achtzehn.  Mutters Freund fuchtelt mit dem Sturmgewehr herum. Er hat ein Alkoholproblem . Catherine reichts. Sie zieht von zu Hause aus. Die Sorgen nimmt sie mit. Sorgen, dass die euphorische Mutter Herd oder Kerzen brennen lässt. Sorgen, dass die traurige Mutter zur Rasierklinge greift.
 

Niemand weiss genau, was bei Catherine Duvaliers Mutter im Kopf passierte. Forscher vermuten eine Störung neuronaler Netzwerke. Die Störung stürzt manische Menschen in eine Endlosschleife von Euphorie und Verzweiflung. Eine Endlosschleife, die Catherine Duvalier im Blut liegt. Ob die Erkrankung ausbricht, hängt nicht nur von den Genen ab, sondern auch von der Lebenssituation. Deshalb sind Kinder von psychisch kranken Eltern so gefährdet. Eine schwierige Kindheit, gepaart mit genetischer Vorbelastung – und Risikokinder können dem Schatten ihrer Eltern nicht mehr ausweichen.
 

Sie ist zweiundzwanzig. Zwei Polizisten läuten an der Tür. Mutter und der Zug. Im Film haben Polizisten Beruhigungstabletten dabei. Bei ihr nicht.
 

Der Cappuccino ist leer. Catherine Duvalier ist aber noch nicht fertig. «Nach dem Suizid Der Fall «Wie konntest du nur?» der Mutter habe ich nur noch funktioniert. Es hat Zeit gebraucht, bis ich wieder auf den Beinen war. Nicht nur meine Mutter weiss, wie es ist, wenn die Welt dunkel wird. Wenn die Bettdecke zu schwer ist, der Tag zu viel.» Catherine Duvalier hat geheiratet, ist dreimal Mutter geworden. Einfach war es nicht. Die Angst vor der Krankheit war bei jedem Schritt dabei. Besonders bei der Geburt des zweiten Kindes. Bei der Mutter war das der Auslöser. Schwierig war auch die Zeit nach dem 42. Geburtstag. Da hatte sie ihre Mutter altersmässig überlebt. «Ich glaubte lange nicht an Therapie. Meiner Mutter hat es nicht geholfen. Inzwischen beobachte ich meine Seele aber genau. Ich habe gelernt: Wenn Mutters Schatten zu bedrohlich wird, hole ich mir Hilfe. Ich lebe weiter.»
 

*Name geändert

Buchtipp
Wenn die Psyche streikt
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