Sie war leichte Beute. Ein «Huscheli» – verschüchtert, angepasst, stets bemüht, eine gute Schülerin zu sein. Sie müffelte, trug tagelang dieselben Klamotten, hatte strähniges Haar. Und sie war peinlich darauf bedacht, niemanden merken zu lassen, welche Zustände in ihrem Elternhaus herrschten.

Schon in der Primarschule wurde sie gemobbt. Sogar die Klassenlehrerin soll mitgemacht haben, so Miriam Fischer*. Der Wechsel in eine Privatschule brachte nur kurz Erleichterung. Dort ging es ab der zweiten Sek weiter wie gehabt.

«So etwas wie Mutterliebe habe ich nie erfahren»

 

Miriam Fischer wuchs in einem kleinbürgerlichen Haushalt in der Agglomeration einer grossen Schweizer Stadt auf. Der Vater ist Polizist, auch die Mutter hatte eine gute Stelle, bevor die Kinder kamen. Es war genug Geld für Reitunterricht da. Auch ins Karatetraining schickte man die Tochter. Duschen, Haare waschen und frische Kleider anziehen durfte sie hingegen nur einmal die Woche. Das genüge, meinte die Mutter.

Die Mutter. Eine zierliche Frau mit scharfkantigem Gesicht. «Sie war immer hart zu mir und meinem Bruder. So etwas wie Mutterliebe habe ich nie erfahren», sagt die heute 20-Jährige. Nach aussen verstand es die Mutter perfekt, eine heile Familienwelt vorzugaukeln: «Sie war scheinheilig. Konnte nach einem Streit sofort zuckersüss werden, wenn ein Fremder dazukam.» Doch der Alltag war anders. «Wenn man ihre Erwartungen nicht haargenau erfüllte, war der Teufel los, selbst wenn man nicht einmal wusste, welche Erwartungen man hätte erfüllen sollen», erzählt Miriam Fischer. «Von einem Moment auf den anderen konnte ihre Laune wechseln, man wusste nie, woran man war. Und sie wollte immer die volle Kontrolle.»

Von zu Hause weggelaufen

In der zweiten Primarklasse versuchte Miriam zum ersten Mal, von zu Hause wegzulaufen. Sie hatte eine schlechte Note bekommen. Die Mutter bat die Lehrerin, dem Mädchen zusätzliche Hausaufgaben aufzutragen. «Es war so peinlich. Und es ging nicht einmal um Rechnen oder Rechtschreibung. Es ging um Handarbeit!» Nach der Schule versteckte sie sich unter einer Brücke, «obwohl ich schreckliche Angst im Dunkeln habe». Doch eine Kollegin verriet sie. «Meine Mutter brüllte mich an, schickte mich ohne Znacht ins Bett und gab mir einen Monat Hausarrest.»

«Die Mutter stieg aus, zog mich an den Haaren zurück ins Auto und verpasste mir eine Ohrfeige.»

 

Angst im Dunkeln hat Miriam Fischer, seit sie denken kann: «Als ich vier Jahre alt war, setzten mich die Eltern in einem Waldstück aus, weil ich auf der Heimfahrt nicht aufhörte zu plappern. Die Mutter sagte zum Vater, er solle anhalten. Sie stieg aus, zog mich aus dem 

 

Auto, und sie fuhren weg. Ich weinte und hatte schreckliche Angst. Irgendwann tauchte das Auto wieder auf. Die Mutter stieg aus, zog mich an den Haaren zurück in den Wagen und verpasste mir eine Ohrfeige.»

Der Vater. Gross, rundlich-weiches Gesicht. Als Polizist eine Respektsperson, als Vater kaum spürbar. «Er war immer auf ihrer Seite, trat nie für uns Kinder ein, egal wie absurd und ungerecht sich unsere Mutter aufführte», sagt Miriam Fischer. «Selbst kleinste Geheimnisse verriet er ihr sofort.»

Stundenlang gebrüllt

Miriam Fischer tut sich bis heute schwer, anderen Menschen zu vertrauen. Es geht der grossgewachsenen, schlanken Frau zwar besser, doch immer wieder ist sie in Verteidigungsstellung und schnell auf Angriff, wie ein angstbissiges Tier.

Fischer hat ihren Fall samt einem umfangreichen Dossier dem Beobachter zur Verfügung gestellt, weil sie  Jugendlichen in ähnlichen Situationen Mut machen will: «Als Kind spürt man, dass etwas nicht stimmt. Doch das kranke Familiengefüge ist deine Realität. Du fühlst dich schuldig, weil es bei anderen Kindern zu Hause ja ganz anders zu laufen scheint. Schuld bist aber nicht du, das Kind, sondern die Eltern.» 

Situation verschlimmert sich stetig

Als der ältere Bruder in der Pubertät aufmuckt, wird es zu Hause immer unerträglicher. «Es wurde ständig gebrüllt – die herrische Stimme meiner Mutter, mein Bruder, der sich wehrte, mein Vater, der sich irgendwann einmischte», sagt Miriam Fischer. «Die Streitereien dauerten oft Stunden.»

Immer wieder verlangt Miriam mehr Ruhe im Haus, weil sie Hausaufgaben machen muss. Und gerät ebenfalls ins Visier der Mutter. «Wenn ich nach der Schule zuerst mein Zeug im Zimmer ablegte, bevor ich die Mutter grüsste, ging der Terror schon los. Wegen so einer Lappalie konnte sie mich ohne Znacht ins Bett schicken. Und sie liess keine Möglichkeit aus, mich herunterzumachen, beschimpfte mich als fett oder dumm.»

Im Spätsommer 2012 treiben die Streitereien auf einen Höhepunkt zu. Miriam Fischer bemerkt, dass die Mutter ihr Zimmer, ihre Sachen, ihr Handy durchsucht. «Sie hatte keinen Respekt vor unserer Privatsphäre, behandelte uns, als wären wir ihr Eigentum.» Sogar im Betrieb, wo sie die Lehre macht, tauchen die Eltern unangekündigt auf und wollen ihrer Tochter bei der Arbeit zusehen. Miriam ist das peinlich. Auch im Karatetraining besuchen sie die Tochter – bis der Trainer die Eltern bittet, die Besuche zu unterlassen. Ein älterer Kollege merkt, dass Miriam in Bedrängnis ist, und gibt ihr für den Notfall seine Telefonnummer.

Emotionaler Missbrauch

Emotionaler Missbrauch, wie ihn Miriam Fischer erlebt hat, kommt häufiger vor, als man denkt. Meist geschieht er in ganz «normalen» Familien. «Täter» sind oft Elternteile mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Solche Menschen haben ein ausgeprägtes Kontrollverlangen, denken nur in Schwarz-Weiss-Kategorien, lassen nur ihre eigenen Ansichten gelten und sehen die Fehler immer nur beim Gegenüber. Sie sind nicht wirklich zu Mitgefühl fähig.

Da emotionaler Missbrauch im Gegensatz zu physischen Misshandlungen keine sichtbaren Spuren hinterlässt, wird er oft nicht entdeckt. Er gilt unter Fachleuten aber als ebenso nachhaltig zerstörerisch für die Kinderseele.

Am 22. September kommt Miriam etwas später als üblich nach Hause. Die Mutter macht ihr eine Szene, weil ihretwegen die Wienerli geplatzt seien, und schickt sie los, auf eigene Kosten neue Wienerli zu kaufen. Der Coop im Ort hat bereits geschlossen. Miriam traut sich nicht, ohne Würstchen zu Hause aufzutauchen. Sie ruft den Karatekollegen an, verabredet sich mit ihm. Bei ihm zu Hause googeln sie nach Hilfsangeboten für Jugendliche in schwierigen Situationen. 

Nur weg von hier!

 

Miriam denkt jetzt zum ersten Mal an Suizid. Damit die Mutter nichts merkt, fährt sie mit dem Zug in die Stadt, um die Wienerli zu kaufen. Weil sie erst spät wiederkommt, wird die 16-Jährige wieder einmal ohne Abendessen ins Bett geschickt. Miriam ruft am nächsten Tag erstmals bei einer Beratungsstelle an.

Vaters Geburtstag. Miriam schenkt ihm ein Milchkesseli voller Schokolade. «Er freute sich sehr.» Doch am Abend kommt er in ihr Zimmer und sagt, er wolle ihr Geschenk nicht, sie müsse es zurücknehmen. Miriam ist völlig perplex, weigert sich. Die Mutter mischt sich ein, droht ihr Schläge an.

«Ich wollte nur noch weg», sagt Miriam Fischer. Sie packt Tasche und Rucksack, versteckt sie, geht schlafen und am Morgen zur Arbeit – und kommt abends doch wieder heim. Die Mutter verlangt ein Gespräch, doch Miriam hat keine Lust, will nur in Ruhe ihre Aufgaben machen. Es gibt ein Gerangel, die Mutter schlägt zu, würgt sie. Dann wirft sie ihre Tochter aus dem Haus. Miriam schnappt sich ihre Sachen und macht sich auf zu einer Auffangstation für Jugendliche.

«Die Mutter droht und schmeichelt, um die Kontrolle über ihre Tochter wiederzuerlangen.»

Sie ist nicht lange in Sicherheit. Bald terrorisiert die Mutter sie mit SMS, versucht es mal mit Schmeicheleien, dann mit Erpressung. Sie droht, Miriams geliebte Katze wegzugeben, wenn sie nicht sofort heimkomme. Behauptet, sie müssten wegen der Kosten, die Miriam verursacht, Auto und Haus verkaufen.

Der grosse Knall

 

Miriam denkt wieder an Selbsttötung. Die Jugendpsychologen und Sozialarbeiter erklären den Eltern, Miriam wünsche keinen Kontakt und werde vorerst für eine Woche bei der Grossmutter wohnen. Die Eltern lassen nicht locker. Sie lauern ihr trotz gegenteiliger Abmachung auf. Miriam droht, sie anzuzeigen. Doch der Druck wird zu gross. Schliesslich knickt sie ein und geht zurück nach Hause.

Anfang November der grosse Knall. Miriam bleibt länger im Reitstall, informiert aber die Eltern, sie komme später heim und habe schon gegessen. Als sie zu Hause eintrifft, grüsst sie kurz die Eltern, die beim Abendessen sitzen, geht in ihr Zimmer und beginnt mit den Hausaufgaben.

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«Plötzlich kam die Mutter ins Zimmer, schmiss meinen Laptop zu Boden und befahl mir, in die Stube zu kommen. Ich weigerte mich, da kam mein Vater dazu. Er führte mich mit einem Polizeigriff aus dem Zimmer», sagt Miriam. «Ich konnte mich losreissen, aber meine Mutter zerrte an meinen Haaren, packte mich, wo sie mich gerade zu fassen kriegte – so heftig, dass ich noch heute eine Narbe auf der Brust habe.»

Der Vater drückt Miriam zu Boden, wieder mit dem Polizeigriff. Sie schreit vor Schmerz, wimmert. Wehrt sich und schlägt den Vater mit der Faust in den Schritt, um loszukommen. Die Mutter brüllt sie an: «Hock ane!» Und «Heb si, schlaan si» zum Vater. Der landet einen Treffer, Miriams Nase blutet. Die Mutter sorgt sich nur um den Teppich: «Pass uuf, du machsch alles dräckig!» Dann befiehlt sie der Tochter, sich in der Waschküche zu reinigen. Miriam hat die ganze Szene mit dem Handy aufgenommen.

Zuflucht in der Jugendauffangstation

Miriam hat nur einen Gedanken: weg! Sie zieht einen frischen Pulli über, packt Handy, Portemonnaie, Jacke, Schuhe und rennt in Socken aus dem Haus. Sie macht sich zu Fuss auf in die Jugendauffangstation, auf Schleichwegen, aus Furcht, entdeckt zu werden. Noch unterwegs wird sie mit SMS bombardiert. «Ich weiss, wo du bist…», schreibt die Mutter, unterschwellig drohend.

Dreimal sucht Miriam im Herbst 2012 Zuflucht in der Jugendauffangstation, das letzte Mal zwei Wochen nach ihrem 17. Geburtstag. Die Behörden entscheiden, den Eltern die Obhut zu entziehen, denn Miriam denkt nach jedem Treffen, jedem Kontaktversuch der Eltern an Suizid. Die respektieren ihren Wunsch nach Distanz nicht: «Sei dir bewusst, dass wir jederzeit frei entscheiden», droht die Mutter in einem Brief, «wir lassen uns keinen Maulkorb anlegen, von niemandem.»

Sie ritzt sich

 

Im Dezember fängt Miriam Fischer an, sich zu ritzen. Die Schmerzen verschaffen ihr kurz Erleichterung. Sie geht nicht mehr in die Berufsschule, ihr wird die Lehrstelle gekündigt. Nach einem misslungenen Wechsel in eine Jugendeinrichtung sucht Miriam Hilfe in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Aus freien Stücken. Vier Monate wird sie dort bleiben.

Am 2. August 2013 zeigt Miriam Fischer ihre Eltern an, wird die  Anzeige auf Anraten ihres psychologischen Betreuers aber zurückziehen – sie wäre der Konfrontation bei einem Prozess nicht gewachsen. Die Mutter versucht weiterhin, Kontrolle über ihre Tochter zu erlangen – mit Schmeicheln, Drohen, Appellen an ihr schlechtes Gewissen.

Wut kommt hoch

 

Sie schreibt ihr zum 18. Geburtstag, sie habe bereits Kosten über 110000 Franken verursacht. Sie schiebt ihr die Schuld zu: «Deine sture, selbstzerstörerische Haltung […] hat dich ja bereits mehrfach in extreme seelische Untiefen geführt.» Sie solle auf Psychopharmaka verzichten und sich an eine Bachblütentherapeutin wenden.

Sie schickt ihr eine Einladung im Namen ihrer heissgeliebten Katze: «Ich vermisse dich. Meine Familie ist so traurig, kann nicht verstehen, WARUM. Deine Mia.» Sie sieht sich und ihren Mann als Opfer: «Rücksicht war gestern. Wir Eltern haben unser Elternleben lang auf dich und deinen Bruder Rücksicht genommen. Unsere Gutmütigkeit ist uns schlecht bekommen, wir hätten dich deine Mobbing-Erfahrungen alleine lösen lassen sollen.»

Immer wieder von den Eltern aufgespürt

 

Um Miriam Fischer zu schützen, teilt man sie in eine Wohngruppe um, deren Standort geheim ist. Doch nicht einmal hier kommt die mittlerweile 20-Jährige zur Ruhe. Irgendwie finden die Eltern die Adresse heraus und nehmen erneut Kontakt auf.

Bei Miriam kommt alles wieder hoch, die Ohnmacht, die Angst, die Wut. Sie wendet sich in Panik an einen Kollegen, der bei der Polizei arbeitet. Er rät ihr, sich beim Gewaltschutz der Stadt Zürich zu melden. Der dortige Polizeibeamte sucht das Gespräch mit den Eltern, versucht, ihnen klarzumachen, dass sie keinerlei Recht auf Kontakt haben.

Er ist der Ansicht, die Eltern hätten endlich begriffen. Miriam Fischer kann das nicht glauben. Sie will die Eltern jetzt wegen Stalking anzeigen, sollte sie auch nur ein einziges weiteres Mal von ihnen hören oder lesen.

*Name geändert