Wenn ein Pilot wegen eines Bandscheibenvorfalls bloss noch im kaufmännischen Bereich arbeiten kann und deshalb nicht mehr 190’000 Franken, sondern nur noch 90’000 Franken verdient, beträgt seine Einkommenseinbusse und damit sein Invaliditätsgrad 53 Prozent. Gestützt darauf wird seine IV-Rente berechnet – so weit, so nachvollziehbar.

Problematisch ist, wenn jemand bereits vor der Invalidität unterdurchschnittlich verdient hat. In solchen Fällen argumentiert die IV häufig, mit einer «angepassten Tätigkeit» könne die Person trotz Invalidität annähernd gleich viel verdienen wie vorher, in Einzelfällen sogar mehr. Entsprechend tief fällt die IV-Rente aus, wenn überhaupt.

Behindertenorganisationen und Sozialversicherungsexperten kritisieren dies seit langem. Die als Vergleich herangezogene Lohnstatistik widerspiegle fast nur die Löhne von Gesunden, damit würden Menschen mit Behinderung «systematisch schlechtergestellt».

Das Bundesgericht hat nun aber die bisherige Praxis ausdrücklich bestätigt. Es gebe «keine ernsthaften sachlichen Gründe» für eine Praxisänderung. Die Lohnstatistik spiele nur in jenen Fällen eine Rolle, wo kein konkreter Lohnvergleich vor/nach der Invalidität möglich sei. In diesen Fällen gebe es zwei Korrekturfaktoren: den sogenannten individuellen Leidensabzug sowie einen Abzug, wenn jemand schon vor Eintritt der Invalidität unterdurchschnittlich verdient hat. 

«Hypothetischer Lohnvergleich nützt nichts»

Für Beobachter-Sozialversicherungsexpertin Irene Rohrbach ist das Urteil ungerecht und praxisfern. «Wenn eine Servicekraft nur fünf Kilogramm heben kann, muss immer der ohnehin überlastete Koch die Getränkeharassen holen, was die Abläufe in einem Gastrobetrieb empfindlich stört. Eine solche Servicekraft stellen Gastrobetreiber ungern ein. Das ist die Realität – da nützt ein hypothetischer Lohnvergleich nichts.» Wer wenig verdient und behindert wird, habe unter dem heutigen System faktisch geringere Chancen, eine IV-Rente zu erhalten als Menschen mit höherem Einkommen. 

Ausserdem würden die vom Bundesgericht propagierten Korrekturinstrumente («Leidensbedingter Abzug», «Parallelisierung») praktisch keine Gerechtigkeit bringen. Das stehe übrigens auch in den Gutachten zum Urteil, sagt Rohrbach.

Rohrbach rät Betroffenen, ihre behinderungsbedingten Einschränkungen zusammen mit dem behandelnden Facharzt detailliert zu dokumentieren, damit die IV nicht auf unrealistische Arbeitsprofile abstellen kann.

Das Urteil des Bundesgerichts gibt auch im Parlament zu reden: Die Sozialkommission des Nationalrats berät am 6. April eine Kommissionsmotion. Damit könnte sie Sozialminister Alain Berset zwingen, dafür zu sorgen, dass die IV die Einkommensmöglichkeiten von gesundheitlich eingeschränkten Personen realistischer berechnet.

  • Medienmitteilung des Bundesgerichts zu diesem Urteil: bger.ch
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Martin Müller, Redaktor
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