Wäre Linda Weber (Name geändert) noch ein Kind, bekäme sie sofort den Stempel «hyperaktiv» aufgedrückt. Wegen ihrer Symptome: Die 50-Jährige kann kaum stillsitzen, rutscht dauernd auf dem Stuhl hin und her, steht auf, streckt und bückt sich. Grund für das merkwürdige Verhalten ist ein Gendefekt. Erst auf den zweiten Blick fällt der blaue, halb gefüllte Gymnastikball auf, den sie sich ständig hinter dem schmalen Rücken hin- und herschiebt. «Ohne dieses Ding könnte ich kaum sitzen», sagt sie.

Bis vor sechs Jahren arbeitete Linda Weber als Lehrerin. Wegen chronischer Schmerzen und ständiger Müdigkeit musste sie ihr kleines Teilzeitpensum aber aufgeben. Sie leidet am Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS), einer genetisch bedingten Bindegewebserkrankung. Den Betroffenen fehlt ein bestimmtes Eiweiss, ein Aufbau-Klebstoff des Kollagens.

Da Bindegewebe überall im Körper vorkommt, sind die Symptome sehr vielfältig und reichen von überbeweglichen Gelenken bis hin zum Reissen der inneren Organe. Die oft schweren Krankheitsverläufe erfordern eine aufwendige Behandlung und sind mit hohen Belastungen für die Betroffenen verbunden. Es gibt bis heute keine Heilungschancen.

Irrwege und falsche Diagnosen

EDS ist eine sogenannt seltene Krankheit; diese sind zu 80 Prozent genetischer Natur. Eine Krankheit gilt dann als selten, wenn höchstens fünf von 10'000 Personen betroffen sind. Heute sind etwa 6000 bis 8000 seltene Krankheiten bekannt, in der Schweiz leiden schätzungsweise bis zu 580'000 Menschen an einer davon. Ein Hauptproblem vieler Betroffener sind diagnostische Irrwege (manchmal dauert es Jahre, bis eine Diagnose feststeht) und Behandlungsprobleme durch den Mangel an Informationen auf allen Ebenen. Hinzu kommen die administrativen Hürden, also die Unklarheit und Willkür bei der Vergütung durch Krankenkassen und Sozialversicherungen. «Jemand mit einer seltenen Krankheit wird oft schlechter versorgt als jemand mit einer häufigeren», sagt Esther Neiditsch, die abtretende Generalsekretärin von Pro Raris Schweiz, dem Dachverband für seltene Krankheiten. «Das darf nicht sein.»

Vor diesem Hintergrund hat der Bundesrat letzten Herbst ein nationales Konzept zu seltenen Krankheiten verabschiedet. Damit soll in der ganzen Schweiz die Zusammenarbeit zwischen behandelnden Ärzten, Vertrauensärzten und Versicherungen hinsichtlich Kostenübernahme und genetischer Analysen standardisiert werden. Das Konzept schlägt 19 konkrete Massnahmen vor. Eine der wichtigsten ist die Schaffung von Referenzzentren, in denen Forschung, Wissen und Behandlung seltener Krankheitsgruppen gebündelt werden.

«Endlich wusste ich, ich habe etwas»

Mitte Mai hat nun der Bundesrat den Umsetzungsplan des Konzepts genehmigt, bis Ende 2017 sollen die Referenzzentren geschaffen werden, Anzahl und Standorte feststehen.

Bei Linda Weber wurde erst vor drei Jahren das EDS-Syndrom mittels einer Hautbiopsie nachgewiesen. «Das Resultat hat mich beruhigt: Endlich wusste ich, okay, ich habe wirklich etwas. Das erklärt meine Beschwerden.» Jahrelang litt sie schon vorher unter starken Schlafstörungen, konnte sich tagsüber kaum mehr erholen, hatte ständig Schmerzen, bis sie mit 40 zusammenbrach. Sie schiebt ihre randlose Brille ins grau melierte Haar und seufzt. «Es braucht viel Kraft, meinen gesundheitlichen Level zu halten. Stabil zu bleiben ist meine grösste Leistung.» Wöchentlich geht sie zur Physio- und Schmerztherapie und wird zudem psychologisch betreut.

Seit sie aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands nicht mehr arbeiten kann, geht es ihr auch finanziell schlecht. Heute ist sie Sozialhilfebezügerin. Sie hoffte, dank einer IV-Rente raus aus der Sozialhilfe zu kommen, aber die IV verfügte letzten Herbst, sie sei zu 75 Prozent arbeitsfähig. Zu diesem Resultat kam die medizinische Abklärungsstelle (Medas) der Invalidenversicherung. Entgegen der Empfehlung ihrer Hausärztin und der Genetikerin und EDS-Spezialistin Marianne Rohrbach vom Kinderspital Zürich: «Für Frau Weber wäre eine Tätigkeit von etwa 40 Prozent mit wechselnden Belastungen machbar.»

«Die IV unterstellt mir, dass ich viel mehr arbeiten könnte. Aber das geht nicht, obwohl ich so gern würde.»

Linda Weber (Name geändert)

«Ich war total geschockt», sagt Weber. «Die IV unterstellt mir, dass ich viel mehr arbeiten könnte. Aber das geht nicht, obwohl ich so gern würde.» Die Medas-Gutachter hätten zwar einzelne Aspekte ihrer gesundheitlichen Probleme beachtet, aber nicht das Gesamtbild erfasst. «Obwohl ihnen die Erfahrung fehlt, wurde kein EDS-Spezialist zugezogen. Die Rentenablehnung, das Hin und Her zwischen den Ämtern frisst meine verbleibenden Kräfte auf», sagt sie.

Den IV-Gutachtern fehlt die Erfahrung

Mangelnde Erfahrung der IV-Gutachter mit seltenen Krankheiten kritisiert auch Angie Hagmann, Leiterin der Fach- und Kontaktstelle avanti donne für Frauen mit Behinderung. «Nicht spezialisierte Ärzte sehen naturgemäss nur selten Patienten mit einer Krankheit wie EDS. Die IV-Gutachter sind meist nicht spezialisiert. Trotzdem setzen sie sich oft über die Einschätzung behandelnder Ärzte zur Arbeitsfähigkeit hinweg. Wir haben mehrere solche Fälle in der Beratung.»

Genau deshalb fordern Fachleute wie Esther Neiditsch für die Beurteilung der IV-Rente Expertengremien, die unabhängig von IV-Gutachtern und Krankenkassen Patienten mit seltenen Krankheiten anschauen und den Rentenanspruch festlegen. «Solche Experten sind sicher nicht befangener als von den Versicherungen bezahlte Ärzte», sagt Neiditsch dezidiert.

«Zwei verschiedene Blickwinkel»

Mediensprecherin Sabrina Gasser vom Bundesamt für Sozialversicherungen, das für die IV zuständig ist, bestätigt, dass zum Teil mangelndes Fachwissen «ein Problem für die Ärzteschaft – inklusive Gutachter – darstellen kann». Dass IV-Gutachter die Leistungsfähigkeit der Betroffenen anders einschätzen als die Haus- und Fachärzte, habe aber einen anderen Grund: «Hausärzte beurteilen ihre Patienten aus einem medizinischen Blickwinkel, IV-Gutachter im Hinblick auf die Arbeitsfähigkeit.» Wieso diese Blickwinkel sich dann so stark unterscheiden, bleibt aber dahingestellt.

Das nationale Konzept zu den seltenen Krankheiten steht unter der Obhut des Bundesamts für Gesundheit, Rentenspezifische Themen gehören aber ins Ressort des Bundesamts für Sozialversicherungen. Ein ständiges Hin und Her zwischen den Ämtern verhindert wohl oft die pragmatische Lösung der konkreten Probleme – zum Nachteil der Betroffenen.

Trotzdem ist Matthias Baumgartner, Leiter des klinischen Forschungsschwerpunktes radiz (Rare Disease Initiative Zürich) über seltene Krankheiten an der Universität Zürich, überzeugt, dass das Konzept auf gutem Weg ist. «Damit hat die Schweiz bezüglich seltener Krankheiten den Anschluss an Europa wiedergefunden.» Der Kinderarzt und Professor für Stoffwechselkrankheiten hält insbesondere die Schaffung der Referenzzentren für wichtig, um den Betroffenen künftig adäquater helfen zu können.

Linda Weber hat nun mit Hilfe des Sozialamts Beschwerde gegen die IV-Verfügung eingereicht. Eine Antwort erwartet sie frühestens im Herbst.