Die Willkür der Behörden wollte Agatha Bortolin aus Oberaach TG nicht mehr länger hinnehmen. Die 56-Jährige Schritt zur Tat und gründete die bisher einzige Selbsthilfegruppe für Fürsorgeabhängige in der Schweiz. Der Umgangston auf den Ämtern sei oft sehr unfreundlich und abschätzig, die Behandlung schikanös und arrogant. «Man muss sich wirklich nicht alles gefallen lassen», sagt die couragierte Frau. «Die Ämter müssen ihre Pflicht ernst nehmen und einen respektieren. Schliesslich hat man auch als Sozialhilfeempfängerin gewisse Rechte.»

Im Bereich Sozialhilfe steht im Thurgau seit längerer Zeit nicht alles zum Besten.

So schrieb vor zwei Jahren eine Gruppe von Fachleuten in einem Bericht über das Fürsorgeamt Kreuzlingen: «Wir stellen fest, dass der Umgang mit Klientinnen und Klienten in persönlicher und fachlicher Hinsicht zu wünschen übrig lässt. Insbesondere vermissen wir eine offene und wohlwollende Atmosphäre als Voraussetzung für die Förderung von Selbstvertrauen und Entwicklung der eigenen Kräfte im Sinn der Hilfe zur Selbsthilfe.» Bis anhin hat sich an der Situation kaum etwas geändert. «Das soziale Klima im Kanton Thurgau ist äusserst schlecht. Die Leute werden teilweise wie Hunde behandelt», klagt eine Mitarbeiterin der Caritas Thurgau.

Bürokratie statt rascher Hilfe

Diese bittere Erfahrung machte auch die 36-jährige Rita Lo Riso aus dem thurgauischen Rickenbach. Die allein erziehende Mutter musste schon bis zu 45 Minuten vor dem Pult ihrer Fürsorgerin stehen, obwohl ein Sitzungstisch mit Stühlen vorhanden ist. «Eine derartige Behandlung ist demütigend», sagt Rita Lo Riso. Ihre Fürsorgerin bestreitet diese Darstellung; sie tyrannisiere niemanden willentlich: «Wenn das wirklich geschehen ist, dann ist mir das unbewusst passiert», erklärt sie.

Als sich Rita Lo Riso vor vier Jahren von ihrem Mann trennte und mit den drei kleinen Kindern allein zurückblieb, war ihr Vermögen schnell aufgebraucht und eine Arbeit schwierig zu finden. Deshalb wandte sie sich damals an das Fürsorgeamt in der Hoffnung auf schnelle, unbürokratische Hilfe. Als Erstes erhielt sie jedoch ein Formular in die Hand gedrückt, das sie zur Rückzahlung der künftig geleisteten Unterstützung verpflichtete.

Das Fürsorgeamt Rickenbach ist kein Einzelfall. Viele Gemeinden und Kantone tendieren immer mehr dazu, die bescheidene finanzielle Unterstützung, die sie als Sozialhilfe an Bedürftige auszahlen, zurückzufordern. Das dürfen sie auch, denn die Rückerstattungspflicht für Sozialhilfe ist in allen kantonalen Sozialhilfegesetzen festgeschrieben. Und zunehmend weisen sparwütige Politiker die Sozialämter an, diese Pflicht systematisch geltend zu machen.

Kantone fahren die harte Linie

Derartige Rückerstattungsforderungen widersprechen jedoch den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Die Konferenz empfiehlt, auf die Rückerstattung aus künftigen Erwerbseinkünften zu verzichten. Eine Rückerstattung sollte nur gefordert werden, wenn die Fürsorgeempfänger eine grosse Erbschaft oder einen hohen Lottogewinn machen.

So sieht das auch die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK). Für Ruth Lüthi, Freiburger Regierungsrätin und SODK-Präsidentin, steht fest, dass angedrohte Rückforderungen wie im Fall von Rita Lo Riso problematisch sind: «Es ist entmutigend, wenn die Sozialhilfeklienten erfahren, dass sie später Unterstützungsleistungen zurückzahlen müssen. Das Ziel der Sozialhilfe ist es, alles zu tun, damit die Menschen bald wieder auf eigenen Füssen stehen.»

Nicht alle der rund 350000 Fürsorgeabhängigen in der Schweiz haben so viel Glück wie die ehemalige «Big Brother»-Kandidatin Daniela Hahn: Die 30-jährige Sozialhilfebezügerin gewann 150000 Franken für ihr Durchhaltevermögen im Container. Damit konnte die Aargauerin wenigstens problemlos ihre Schulden beim Sozialamt zurückzahlen.

Bisher haben nur wenige Kantone den Verzicht auf Rückerstattung aus künftigem Erwerbseinkommen in den Sozialhilfegesetzen verankert. In einigen Kantonen steht aber eine Revision der Gesetze an. Bleibt zu hoffen, dass sie entsprechend den SKOSEmpfehlungen geändert werden. «Ein Umdenken ist wirklich nötig», bekräftigt Ruth Lüthi. In einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wird die Rückerstattungspflicht denn auch als «archaisch» bezeichnet. Die moderne Sozialhilfe setze auf Integrations- und Motivationsanreize und nicht auf Strafaktionen.

Grobe Fehler eingestanden

Als gezielte Strafmassnahme empfand aber Jacqueline Bossart ihre Behandlung auf dem Sozialamt Rorschach SG. Ihr Fall wurde im letzten Dezember in der Sendung «Quer» im Schweizer Fernsehen aufgerollt. Die Vorgeschichte: Jacqueline Bossart wurde krank und verlor ihre Arbeitsstelle. Die Frau verfügte über keine Ersparnisse und wandte sich deshalb an das Sozialamt. Da ihr Geld nicht einmal mehr für das tägliche Essen reichte, hoffte sie auf behördliche Unterstützung bis zur Auszahlung des Arbeitslosengelds.

Statt Geld erhielt die Frau vom Sozialamt nur Essensgutscheine. Begründung: Sie habe ja vielleicht ein Alkoholproblem. Jacqueline Bossart war entsetzt: «Das war reine Schikane.» Sie akzeptierte das Vorgehen nicht zu Recht. Sozialhilfe in Form von Gutscheinen ist nur zulässig, wenn jemand nachweislich nicht mit Geld umgehen kann. Das sah auch das Sozialamt Rorschach ein: Vorsteher Hans-Paul Candrian gab vor der Kamera zu, dass im Fall Bossart grobe Fehler gemacht wurden.

Wie sagte doch der Beobachter-Experte in der «Quer»-Sendung: «In den Kantonen Aargau und Solothurn herrscht im Sozialhilfebereich Schlechtwetterlage, in der Ostschweiz aber ein Sturmtief.»

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