«Militärrecht hat mit Gerechtigkeit so viel zu tun wie Militärmusik mit Musik» – der französische Premierminister Georges Clemenceau erkannte das vor 100 Jahren.

Für manche Angehörige im Jungfrau-Drama hat sich nichts daran geändert. Als «Farce» und als «Beleg für Befangenheit» taxierten sie die Freisprüche für die zwei angeklagten Bergführer. Sie hatten 2007 sechs Rekruten auf die Jungfrau und in den Tod geführt. Gegen das Urteil hat der Ankläger Berufung eingelegt.

Den Eindruck der Angehörigen konnten auch Prozessbeobachter nicht ausräumen, welche die Arbeit des Militärgerichts durchaus lobten: Ein ziviles Gericht hätte kaum anders entschieden, hiess es.

«Das ist der Kern des Problems», sagt der Basler Strafrechtsprofessor Peter Albrecht. «Selbst die beste Militärjustiz kann sich nicht vom Anschein der Befangenheit befreien. Sie bleibt eine Sonderjustiz, in der Militärs – meist Vorgesetzte – über andere Armeeangehörige – oft Untergebene – oder gar Zivilisten urteilen müssen.» Für Albrecht gehört die Militärjustiz darum grundsätzlich abgeschafft.

«Niemand fordert Erfahrung mit Drogen»

Mit dieser Frage muss sich im kommenden Jahr der Bundesrat beschäftigen. Der Ständerat verlangt, die ganze oder teilweise Abschaffung zu prüfen. Zudem hat der Zuger Grüne Jo Lang 2007 eine parlamentarische Initiative eingereicht, die verlangt, dass zumindest Zivilpersonen – etwa beim «Verrat militärischer Geheimnisse» – nicht der Militärjustiz unterstellt werden. Das Begehren ist eingefroren, bis der Bundesrat über das Postulat des Ständerats entschieden hat.

Warum braucht es überhaupt eine Militärjustiz? Silvia Schenker, Sprecherin der Militärjustiz, erklärt es an einem Beispiel: «Ist es ein Befehl, wenn ein Vorgesetzter Sie bittet, etwas zu erledigen? Oder ist es halt doch nur eine Bitte? Im Militär kann eine solche Formulierung eine ganz andere Bedeutung haben als im zivilen Leben. Um Vorgänge richtig einzuschätzen, ist die Kenntnis solcher Feinheiten unabdingbar, am besten aus eigener Erfahrung.»

Für Strafrechtler Peter Albrecht zieht dieses Argument nicht. «Die zivilen Gerichte müssen ja auch ständig über Vorgänge in Milieus urteilen, die sie nicht aus persönlicher Erfahrung kennen. Niemand käme auf die Idee, in einem Betäubungsmittelfall persönliche Erfahrungen der Richter mit dem Drogenhandel zu verlangen. Und selbst bei Verkehrsdelikten ist es nicht Bedingung, dass ein Richter selber Auto fährt.» Zivilgerichte zögen für solche Einschätzungen Experten zu Rate. Das könnten sie auch für die Beurteilung militärischer Fragen.

Wie wichtig sind Erfahrungen mit Dienstreglementen und dem militärischen Korpsgeist? Bei der Beurteilung des Jungfrau-Unglücks waren sie unbedeutend. Das Gericht musste sich vor allem mit externen Gutachten über das Lawinenrisiko auseinandersetzen, um das Verhalten der Bergführer zu beurteilen. Genau gleich, wie dies in einem zivilen Verfahren der Fall gewesen wäre. Und man musste anspruchsvolle Fragen wie jene der Fahrlässigkeit klären. Das erfordert vor allem juristische Fachkompetenz – die im Jungfrau-Verfahren mit einem renommierten Wirtschaftsanwalt, einem Strafrichter und einem Gerichtsschreiber im Richtergremium zwar vorhanden war.

Dennoch gab es auch fachliche Kritik am Jungfrau-Verfahren. Sie begann bereits kurz nach der Tragödie. Als Untersuchungsrichter wurde damals ein 33-jähriger, in Liechtenstein tätiger Anwalt eingesetzt. Dies, obwohl in der Militärjustiz auch sieben professionelle Untersuchungsrichter arbeiten. Die Zuständigkeit fiel in diesem Fall auf einen Milizler ohne entsprechende Erfahrung. «Alle unsere Untersuchungsrichter absolvieren die gleiche Grundausbildung wie zivile Untersuchungsrichter», wendet Silvia Schenker ein, die Sprecherin der Militärjustiz. Doch ersetzt ein Kurs die fehlende Erfahrung? Im Zivilleben arbeiten Untersuchungsrichter mitunter als Bank- oder Versicherungsangestellte, sammeln also kaum entsprechende Erfahrungen.

18 Jahre Gefängnis wegen Bagatellen

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Komplexe Fälle wie das Jungfrau-Drama erfordern zeitweise den hundertprozentigen Einsatz des Untersuchungsrichters. Konflikte mit dem Zivilleben sind so programmiert. Die Jungfrau-Untersuchung dauerte denn auch ein Jahr länger als die Ermittlungen im tödlichen Bootsunfall auf der Kander, wo von Beginn an ein hauptberuflicher militärischer Untersuchungsrichter zum Einsatz kam. Schenker begründet die längere Verfahrensdauer mit «Beweisergänzungsbegehren und einem Verteidigerwechsel».

Sicher gibt es Delikte, bei denen das militärische Insiderwissen eine grössere Rolle spielt als bei militärischen Sportunfällen. In fast 70 Prozent der Fälle ging es 2008 um Dienstversäumnisse, über 10 Prozent betrafen Verstösse gegen Dienstvorschriften. Die Frage der Befangenheit stellt sich in diesen Fällen allerdings noch mehr: Denn meist werden Untergebene von Richtern mit Vorgesetztenfunktion beurteilt.

Und selbst Anklagen gegen Vorgesetzte bleiben als unrühmliche Prozesse in Erinnerung. Der berühmteste ist jener des Ex-Brigadiers Jean-Louis Jeanmaire, der 1977 in einem Geheimprozess wegen Landesverrats zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Wegen Bagatellen, wie sich später herausstellte. Der zum Verräter militärischer Geheimnisse hochstilisierte Brigadier war vor allem ein Opfer der eigenen Justiz.

Druck der CIA auf Schweizer Militärjustiz?

«Die Militärjustiz arbeitet im besten Fall so gut wie eine zivile. Und selbst dann wird ihre Glaubwürdigkeit in Frage gestellt. Wir sollten uns darum von ihr verabschieden, wie es auch andere Länder getan haben», sagt der grüne Nationalrat Jo Lang. Tatsächlich ist die Schweiz eines der wenigen europäischen Länder, das an der militärischen Sonderjustiz festhält.

Deutschland und Österreich kennen keine Militärgerichtsbarkeit, in Italien und Frankreich ist sie zumindest nur noch für Armeeangehörige zuständig.

Der Zürcher Strafrechtsprofessor und SP-Nationalrat Daniel Jositsch war selber Major in der Militärjustiz und will sich bezüglich einer grundsätzlichen Abschaffung nicht festlegen: «Die Militärjustiz hat als Fachgericht Berechtigung. Notwendig ist ein solches aber nicht. Dagegen ist für mich klar, dass Zivilpersonen nicht mehr vor militärische Gerichte gestellt werden dürfen.»

Tatsächlich hat der angebliche Verrat von militärischen Geheimnissen durch Zivilpersonen regelmässig zu fragwürdigen Untersuchungen und Urteilen geführt. Betroffen sind meist Journalisten, die Geheimnisse publik gemacht haben sollen. Zwar wurden 2007 drei Journalisten freigesprochen, die ein Dokument des Auslandsgeheimdienstes über CIA-Gefängnisse veröffentlicht hatten. Das Papier stellte sich als eine Presseschau des ägyptischen Aussenministeriums heraus, an der nichts Schützenswertes war. Das unnötige Verfahren – offenbar auf Druck des amerikanischen Geheimdienstes CIA eröffnet – richtete dennoch erheblichen Schaden an. Auch Drittpersonen wurden zu Unrecht belastet, zum Beispiel ehemalige Sprecher des Nachrichtendienstes und des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS).

Dass der Bundesrat zumindest Zivilpersonen von der militärischen Gerichtsbarkeit ausnehmen wird, gilt unter Insidern als ausgemacht. Denn die Militärjustiz selber wäre mittlerweile froh, von diesen unangenehmen Fällen befreit zu werden. So zitieren lassen will sich das Oberauditorat indes nicht. Die Position dürfte aber Eingang in einen Bericht finden, der zurzeit durch das VBS für den Bundesrat erstellt wird.