«Wie fandest du Yassin?» Kaum sind wir aus dem Laden, will Apple per Mail wissen, wie das «Erlebnis» war. Auf einer Skala von 1 bis 5 sollen wir den Mitarbeiter bewerten, der uns vor ein paar Minuten ein iPhone verkauft hat. Ähnliches nach einem Anruf bei der Swisscom. Wenige Stunden später kommt eine SMS, die zur Bewertung des Gesprächs auffordert.

Auch offline sollen wir ständig unser Urteil abgeben. Auf einigen Zürcher Plätzen stehen seit dem Sommer klobige Geräte mit vier Knöpfen. Bürger sollen damit die neue Gestaltung bewerten: «Wie gefallen Ihnen Bänke, Stühle und Tröge?» Selbst nach dem Besuch einer öffentlichen Toilette: ein Smiley? Zwei Smileys? Oder war das WC so sauber und gemütlich, dass es uns drei wert ist?

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Man könnte sich geschmeichelt fühlen. Selten war unsere Meinung so begehrt. Auf Schritt und Tritt verteilen wir Sterne, Likes, Punkte und Noten – ein regelrechter Rating-Kult hat die Gesellschaft erfasst. Manch einer verspricht sich von der Demokratisierung des Feedbacks Verbesserungen in allen möglichen Bereichen. Andere warnen vor schlimmen Konsequenzen, wenn alles und alle plötzlich messbar sind.

Nur noch unattraktive Singles

«Wir stehen an einem gefährlichen Punkt», sagt der Berliner Soziologieprofessor Steffen Mau. Schuld daran seien die Daten, die wir meist freiwillig, manchmal unfreiwillig produzieren. Wie oft wir uns bewegen, wo wir einkaufen, wie wir im Job abschneiden oder uns auf Twitter äussern. In der Summe ergibt diese Flut von Infos ein präzises Bild von uns: wer wir sind, was wir leisten. So werden wir vergleichbar.

Stellen Sie sich vor, Sie dürfen kein Auto mieten, weil Sie auf Facebook mit einem verurteilten Raser befreundet sind. Oder beim Online-Dating werden Ihnen nur noch unattraktive Singles vorgeschlagen, weil Ihre Selfies auf Instagram zu wenig Likes bringen. Unwahrscheinlich? Sie könnten sich täuschen. Die Daten, die das ermöglichen, sind längst vorhanden. Man muss sie nur noch verknüpfen.

«Problematisch wird es, wenn es vom Rating abhängt, ob wir eine neue Stelle finden oder einen neuen Partner.»


Steffen Mau, Soziologe, Humboldt-Universität Berlin

Die Firma Klout aus San Francisco tut genau das schon seit Jahren. Sie verbindet die Informationen verschiedener Social-Media-Profile eines Nutzers und berechnet so dessen Klout-Score. Dieser reicht von 1 bis 100 und soll Auskunft geben über den Online-Einfluss einer Person. Wer viele Interaktionen auf Facebook hat, prominente Kontakte auf Linkedin pflegt und auf Instagram fleissig Likes und Follower sammelt, steigt im Ranking auf.

Wer Klout als reine Spielerei abtut, unterschätzt die Macht der Zahlen. So schwören etwa viele Firmen inzwischen auf Influencer-Marketing. Sie bezahlen Leute, die im Gegenzug Produkte auf ihren Social-Media-Kanälen vorteilhaft präsentieren. Das Prinzip ist einfach: Wer mehr Follower hat, mehr Interaktionen und dadurch einen höheren Klout-Score, kann mehr Geld verlangen. So kommt es, dass auf diesen Daten ganze Existenzen aufgebaut werden.

Klout-Score der Schweiz

Soziologe Steffen Mau nennt die Summe der Daten Reputationskapital. «Problematisch wird es, wenn von diesem Kapital abhängt, ob wir eine neue Stelle finden oder einen neuen Partner.» Es entstünden neue Formen des Miteinanders. Wer ständig darauf angewiesen sei, auf sein Rating zu achten und sein Reputationskapital nicht leichtfertig zu verspielen, gebe autonome Verhaltensweisen auf.

«Das macht auf die Dauer krank»

Wir konzentrieren uns also nur noch auf Tätigkeiten mit Aussenwirkung. Im Job, wenn es um die Höhe des nächsten Bonus geht, aber auch im Privaten, wenn die Krankenkasse uns für eine gesündere Lebensweise tiefere Prämien verspricht. Statt eine Weile auf dem Sofa auszuruhen, füttern wir unser Fitness-Armband lieber mit ein paar Kilometern auf der Finnenbahn. Weil wir uns nie sicher fühlen können, nie nachlassen dürfen im Hamsterrad des unendlichen Wettbewerbs, sind wir dauernd gestresst. «Das macht auf die Dauer krank», sagt Steffen Mau.

Herzchen auf Instagram zu sammeln, um im Turnunterricht nicht als Letzter in die Mannschaft gewählt zu werden, ist nur der harmlose Anfang. Den wenigsten ist bewusst, dass die Ratingkultur sämtliche Lebensbereiche prägt. In der Schweiz haben Firmen wie SBB oder Swisscom Meldesysteme eingeführt, die es Angestellten ermöglichen, teils anonym Kollegen zu bewerten. In der Managementsprache heisst das 360-Grad-Feedback. Es führt dazu, dass sich Angestellte permanent unter Beobachtung fühlen müssen. Jedes gelungene Referat, jede Verfehlung wird registriert und liefert dem Chef Stoff fürs Jahresendgespräch. 

«Solche Modelle können Gift sein fürs Betriebsklima», sagt Arbeitspsychologe Theo Wehner von der ETH Zürich. Wenn man nur noch Konkurrent unter Konkurrenten sei, führe das zu einer zusätzlichen Verunsicherung in bereits unsicheren Zeiten. «Wir versuchen nicht mehr umzugehen mit der Ohnmacht, die die Optionenvielfalt auslöst. Sondern uns durch Likes und Dislikes zu retten.» Das sei weder gut für die Psyche der Beobachteten noch für jene der Beobachter.

Viele Geschäftsfelder, die mit der Digitalisierung entstanden sind, sind komplett auf Ratings gebaut. Wer etwa auf Ebay sein Sofa verkaufen will, braucht positive Feedbacks, sonst bleibt er darauf hocken. Gleiches gilt für Selbständige, die ihre Arbeitskraft auf Plattformen wie Gigme.ch anbieten. Erst ein paar gute Bewertungen bringen Vertrauen – und damit womöglich Aufträge.

Zur Top-Bewertung gezwungen

Auf die Spitze treibt es Fahrtenvermittler Uber. Hier bewerten sich Chauffeur und Gast gegenseitig. Und beide wissen: Wenn mein Score unter 4,6 von 5 Sternen sinkt, habe ich ein Problem. Der Uber-Fahrer verliert seinen Job, der Nutzer muss zu Fuss nach Hause. Gewinner ist die Plattform: Die User werden zu Komplizen des Managements, indem sie Überwachungsaufgaben übernehmen – und das gratis. Viele Uber-Fahrer haben ein Schild angebracht, mit dem sie die Gäste auf die knallharte Realität hinweisen: «Wenn Sie meine Fahrt mit vier statt fünf Sternen bewerten, könnte ich schon bald auf der Strasse stehen.» 

Für Gäste, deren Score abgesackt ist, liefert die Uber-App Benimmtipps. Man solle doch darauf achten, die Autotür nicht zuzuknallen. Und immer freundlich bleiben! Das perfide System sorgt dafür, dass Fahrer wie Gäste fast immer Top-Noten bekommen. Und mit diesen kontert Uber dann Kritiker: «Seht her, sind doch alle zufrieden!»

Die britische TV-Serie «Black Mirror» zeigt in einer bitterbösen Satire, worauf wir uns gefasst machen müssen. Auf eine Gesellschaft, in der man mit einem Wisch über den Smartphone-Bildschirm ständig und überall Freunde, Arbeitskollegen und Zufallsbekanntschaften bewerten kann. Wenn der Score absackt, bekommt man das sofort und gnadenlos zu spüren. Im Job, auf dem Wohnungsmarkt, beim Check-in-Schalter am Flughafen. Wer weniger als 4,5 von 5 möglichen Sternen hat, wird ignoriert, benachteiligt und schikaniert.

 

Trailer zur «Black Mirror»-Episode «Nosedive»:

China hat Ambitionen, eine solche Gesellschaft zu werden. Dort gibt es in grösseren Städten das Pilotprojekt «Citizen Score». Bürger, die sich in den sozialen Medien positiv über die Partei äussern, bekommen Pluspunkte. Ebenso jene, die regelmässig Windeln kaufen – der Algorithmus wertet das als Indiz für stabile Familienverhältnisse. Wer dagegen stundenlang Computerspiele zockt, gilt als faul und muss mit einem Abzug beim Citizen Score rechnen. Natürlich bleibt diese Vermessung nicht ohne Folgen: Ein guter Wert erhöht die Chancen auf einen Kredit, einen besseren Job oder eine Reiseerlaubnis für Ferien in Europa. Noch sind der Besitz und die Pflege eines Citizen Scores freiwillig. Bis 2020 soll er jedoch für alle Chinesinnen und Chinesen obligatorisch sein.

Das Leben als Popularitätswettbewerb: Für Jonas Frick, der an der Uni Zürich über Macht- und Herrschaftsverhältnisse der Gegenwart forscht, eine beängstigend totalitäre Entwicklung. Aber kaum zu verhindern: «Ratings sind überall.» Es gelte inzwischen sogar als unfreundlich, keine Bewertung zu geben, sei es bei Airbnb, Tripadvisor oder Facebook. Früher fürchtete man sich nur vor «Big Brother», dem allwissenden staatlichen Kontrolleur. Heute hat man zusätzlich Angst, draussen bleiben zu müssen.

Dem Algorithmus ausgeliefert

Es vergeht praktisch keine Woche ohne eine neue App auf dem Markt, die es ermöglicht, Leute anonym zu bewerten. Zu Charakter, Beziehungsfähigkeit oder Aussehen. Sobald diese Informationen bei relevanten Entscheiden eine Rolle spielen, wird es kritisch. Im Bewerbungsgespräch etwa oder nur schon, wenn es um bessere Plätze im Theater geht. Jonas Frick: «Menschen anhand ihrer Reputation zu sortieren ist eine schreckliche Vorstellung.»

Das Problem sei die Intransparenz. Wer entscheidet denn, welche Hotels auf der Buchungsplattform erscheinen, wenn man einen Suchbegriff eingibt? Es sind die Anbieter, die die Plattformen programmieren, und die verfolgen immer wirtschaftliche Interessen. Demokratie ist nur innerhalb des Algorithmus möglich. Das macht das Leben einerseits langweiliger. Weil man sich nur noch auf Trampelpfaden bewegt, die andere vor uns bereits begangen und für gut befunden haben.

«Wer kein Opfer der Digitalisierung werden will, muss lernen, die Macht der Sterne zu verstehen.»


Jonas Frick, Doktorand, Universität Zürich

Hinzu kommt, dass das System anfällig ist für Manipulation und Unfug: Likes und gute Bewertungen können für ein paar Dollar im Internet gekauft werden. Köche hauen selbst in die Tasten, um auf Yelp ihre Pasta zu preisen. Und es gibt Kunden, die sich einen Spass daraus machen, auf Amazon ironische Feedbacks zu formulieren.

Störungen sind erwünscht

Laut Jonas Frick sind drei Dinge nötig, um den Ratingkult zu bremsen:

  1. Störungen
  2. Kollektive Momente
  3. Bildung

Die einfachste Form des Widerstands ist Verweigerung: keine Likes mehr verteilen, keine Knöpfe mehr drücken, keine Fragebögen mehr ausfüllen. Einen Gegenpol zur Ego-Gesellschaft könnten die Gewerkschaften bilden, indem sie sozialpolitische Lösungen für die Sharing Economy fordern. Kürzlich protestierten in Bern Velokuriere erfolgreich gegen ein undurchsichtiges Bewertungssystem und schlechte Anstellungsbedingungen.

Und schliesslich braucht es ein besseres Bewusstsein bei den Konsumenten. Gemäss Frick fehlt es vor allem an Basiswissen. Das bedeutet: mehr Statistik- und Programmierunterricht an den Schulen. «Wer kein Opfer der Digitalisierung werden will, muss lernen, die Macht der Sterne zu verstehen.»

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Tina Berg, Redaktorin
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