Natalie Gerber* schlief kaum in dieser Nacht. Die Vorfreude hielt sie wach. Morgen würde ihr erstes Kind zur Welt kommen. Per Kaiserschnitt, ein Töchterchen. 

Gerbers fuhren ins Kantonsspital Winterthur. Dort ging alles sehr schnell. Der Kaiserschnitt verlief ohne Komplikationen, um 8.04 Uhr war Lena Maria geboren. Ein gesundes, munteres Kind. Das bestätigt der Bericht, den das Kantonsspital später an Natalie Gerbers Frauenärztin schickte. Die frischgebackenen Eltern waren überglücklich, im Spitalzimmer warteten Familie, Freunde und eine Flasche Prosecco.

Sie wollte nur noch heim

Doch schnell fühlte sich Natalie Gerber nicht mehr wohl in der Klinik. Längst hatte sie entschieden, dass sie das Baby nicht stillen wollte. Dreimal, sagt sie, habe man versucht, sie von diesem Entschluss abzubringen. Es habe für Irritationen gesorgt, dass ihr Mann einen grossen Teil der Betreuung übernehmen würde – und sie möglichst bald wieder in ihr eigenes kleines Geschäft zurückkehren wollte, um sich um Lernende und Angestellte zu kümmern. «Müssen Sie denn das Geld für die Familie verdienen?», wurde sie gefragt.

Nach der ersten Nacht im Viererzimmer wollte sie heim. Es war Samstagmorgen, sie fühlte sich fit. Ihr Mann hatte sich mehrere Wochen freigenommen, um sich um sie und das Baby zu kümmern. Die Ärztin verwies auf eine Infoveranstaltung am Nachmittag und den anstehenden Untersuch durch den Kinderarzt der Klinik. Grundsätzlich spreche aber nichts dagegen, nach Hause zu gehen, sagte sie. Der Kinderarzt gratulierte zu einem gesunden Neugeborenen.

Natalie Gerber konnte sich nicht sattsehen am kleinen Mädchen mit den dunklen Haaren. Als ihr Mann abends kam, um sie heimzuholen, wurden sie aufgefordert zu warten. Fast zwei Stunden später verlangte ein Arzt, dass sie im Spital bleiben. Die Begründung: Sie habe in der Befragung zur Anästhesie angegeben, sie konsumiere täglich Haschpillen. Natalie Gerber stutzte. Was hatte sie? Sie rauchte nicht mehr, hatte ganz auf Alkohol verzichtet, sich gesund ernährt, sogar Schwangerschafts-Yogakurse besucht. Dann dämmerte es ihr. Sie hatte angegeben, ein paarmal einen Hanftee getrunken zu haben.

Doch der Arzt konnte keinen triftigen medizinischen Grund für eine weitere Nacht im Spital nennen, und so brach die kleine Familie auf.

Die Gerbers konnten sich kaum sattsehen am kleinen Mädchen. Lena schlief gut, schrie kaum.

Da sagte der Arzt, sie müssten im Spital bleiben.

Der unschöne Abschied war schnell vergessen. Lena schlief gut, trank viel und schrie kaum. Sogar Gerbers kleiner Hund schien sich über den Familienzuwachs zu freuen. Die Hebamme, die am Sonntagmorgen vorbeischaute, war zufrieden mit der Kleinen.

Doch am Montag hatte die junge Mutter einen Anruf des Toxikologischen Instituts der Uniklinik Zürich auf dem Handy. Sie fragte beim Kantonsspital Winterthur nach. Eine Ärztin eröffnete ihr, dass man Lena Kotproben entnommen hatte. Zwei davon seien jetzt ohne Resultat getestet worden, ob Gerber die Einwilligung gebe, auch die dritte zu testen. Die Mutter verstand nicht ganz. «Ist das normal?», fragte sie sich. «Wegen des Hanftees?» Der Kleinen gehe es gut, sagte sie. Sie wolle jetzt endlich ihre Ruhe. In diese Tests habe sie nie eingewilligt.

Ein paar Tage später flatterte die Einladung zum routinemässigen Hüftultraschall ins Haus. Gerbers fuhren gemeinsam hin. «Alles bestens», sagte die Ärztin. Und: «Aber es gibt ein Gespräch.» Worüber, erfuhren die jungen Eltern nicht. Natalie Gerbers Magen schnürte sich zusammen. «Ist wirklich alles gut?», fragte sie noch einmal. Die Ärztin schickte sie in die Neonatologie. «Meine Tochter schlief auf dem Arm meines Mannes. Sie sah so friedlich aus. Was konnte ihr fehlen?» Auch jetzt, Monate später, treten Natalie Gerber Tränen in die Augen, wenn sie sich an diesen Tag erinnert.

Die Kläger im weissen Kittel

Nach 40 Minuten Wartezeit die vermeintliche Erlösung. Die Gerbers wurden in ein Zimmer gebeten. Am Tisch sassen zwei Frauen und ein Mann. Oberärztin, Oberarzt und Mitarbeiterin einer Fachstelle für Kinderschutz.

«Ihre Tochter hatte Methadon im Kot», eröffnete der Arzt. Natalie sagt, sie habe nicht gewusst, ob sie lachen oder weinen sollte. Methadon? Noch nie im Leben hatte sie Heroin konsumiert, geschweige denn die Ersatzdroge. «Ich nehme kein Methadon», sagte sie rasch. Ihr Mann drückte Lena an sich und sagte: «Lass uns gehen.»

Die junge Mutter wollte nicht gehen, sie wollte die Situation klären. Ein Missverständnis! Wie durch Watte hörte sie, dass es nicht so schlimm sei, dass es spezielle Betreuungsprogramme für Eltern wie sie gebe, dass den Fachleuten die Neugeborenen ganz besonders am Herzen lägen. «Ich nehme kein Methadon, mein Mann auch nicht», betonte sie noch einmal. Langsam wurde sie panisch. Geschichten über Kinder, die gegen den Willen der Eltern ins Heim gesteckt wurden, schossen ihr durch den Kopf. Sie hatte sie immer kritisch gelesen. Stimmten sie doch? Waren jetzt sie dran?

Sie sah ihren Mann an. «Ich will den Test sehen», sagte er. «Jetzt!» Der Arzt erhob sich und verschwand. Die Sozialarbeiterin erklärte Natalie Gerber, wenn es stimme, was sie sage, könne sie das gleich hier mit einer Urinprobe beweisen. «Nicht hier», sagte ihr Mann, «sicher nicht hier!» Natalie Gerber erklärte sich bereit, die entsprechenden Proben bei ihrer Frauenärztin abzugeben. Inzwischen war der Arzt mit einer Kopie eines Dokuments der Uniklinik Zürich zurück. Es schien tatsächlich ein positives Testresultat zu geben. Später wird Gerbers Anwalt feststellen, dass auf dem Dokument Stellen abgeklebt waren.

«Ich schwitzte am ganzen Körper, meine Hände zitterten», erinnert sich Natalie Gerber. Noch auf der Fahrt nach Hause rief sie ihre Ärztin an. Die fiel aus allen Wolken. «Zeigt das Kind Entzugserscheinungen?», fragte sie. Die Mutter verneinte. Es war Donnerstagabend vor Ostern. Gleich am Dienstagmorgen würde sie die verlangten Proben abgeben.

Eltern glücklich mit Kind

War alles ein einziges Missverständnis? Die kleine Lena schlief gut, trank viel und schrie kaum.

Quelle: Kornel Stadler

Das Gedankenkarussell im Kopf drehte daheim weiter. «Gell, du glaubst mir, dass ich keine Drogen nehme?», fragte sie ihren Mann. «Pass auf, dass du jetzt nicht durchdrehst», sagte er. Wohl fühlte auch er sich nicht. Er verschloss die Haustür von innen, und den Hundespaziergang hielt er so kurz wie möglich. In der Nacht lagen beide wach.

Stundenlang rekonstruierten sie die Geburt. Wann hatte man ihr Medikamente gespritzt? Hatte man der Kleinen auch etwas gegeben oder gar später in die Windel getan?

«Ich bin sonst weder ängstlich noch hysterisch», sagt Natalie Gerber heute. Aber so kurz nach der Geburt sei sie extrem verletzlich gewesen, dünnhäutig. «Diese Angst, dass jemand versuchen könnte, uns Lena wegzunehmen, war der blanke Horror.» Sie spricht von Ohnmacht, dem Gefühl, ausgeliefert zu sein. Als sie nachts mit Atemproblemen aufwachte, verbot sie ihrem Mann, einen Arzt zu rufen. «Wenn wir jetzt auffallen, haben wir verloren», sagte sie.

War alles nur ein schrecklicher Irrtum?

Am Ostersonntag beschloss ihr Mann, einen Anwalt einzuschalten. In einer langen E-Mail fassten die Gerbers das Geschehene akribisch zusammen, die Geburt, jedes Gespräch, jedes Telefonat. Noch bevor Natalie Gerber am Dienstagmorgen in die Praxis ihrer Frauenärztin gehen konnte, rief der Anwalt zurück. Er riet ihr, vorerst nicht mit dem Kantonsspital und der Kinderschutzbehörde zu sprechen. 

Als am folgenden Tag das Telefon klingelte, nahm sie gar nicht ab. Es war die Sozialarbeiterin der Kinderschutzfachstelle. Sie hinterliess eine Nachricht: «Das Testresultat war falsch.» – «Ich musste mich setzen», erinnert sich Natalie. «Ich hatte das Gefühl, ich atmete seit Tagen zum ersten Mal wieder normal.»

Ein paar Wochen später flatterte eine Abrechnung der Krankenkasse ins Haus. Laboruntersuchungen. Natalie Gerber fragte nach und erfuhr, dass es sich dabei um ein «Drogenscreening» handelte. Sie rief den Anwalt an: «Wo ist Lena jetzt als Drogenbaby registriert? Warum hat keiner mit uns gesprochen? Warum lockte man uns unter falschem Vorwand in die Klinik? Wie kann so etwas passieren?» 

Der Anwalt hatte schon kurz nach der Besprechung eine lückenlose Aufklärung, die Löschung aller Einträge mit «Haschisch» oder «Drogen» aus Lenas Akten und die Genugtuung von 2000 Franken gefordert. Im August erhielt er eine Stellungnahme der Spitaldirektion: «Wir können nachvollziehen, dass die Eltern durch eine Aneinanderreihung von diversen unglücklichen Umständen tief erschüttert waren.» Man habe den Fall intern aufgearbeitet, und es sei heute sichergestellt, dass mindestens ein Elternteil eine Einwilligung geben müsse, bevor eine Kotuntersuchung veranlasst werde.

Warum man auf Gespräche mit den Eltern verzichtet oder sie ohne entsprechende Information zu solch heiklen Gesprächen einlädt, erfährt man aber nicht. Auf eine Anfrage des Beobachters verweist die Spitalleitung auf die ärztliche Schweigepflicht. 

Die kleine Genugtuung

Das Spital hat sich bei den Gerbers entschuldigt und die Kosten für das Drogenscreening, die zusätzlichen Kosten für Gynäkologin und Hebamme sowie die Anwaltskosten übernommen. Von der geforderten Genugtuung offerierte es ihnen 1500 Franken. 

Der Anwalt riet, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen, damit Ruhe und Frieden einkehre. Natalie Gerber konnte nun endlich ihr Baby geniessen. Mit ihrer Kinderärztin vereinbarte sie, dass Lena Maria im Falle einer schweren Erkrankung in Zürich behandelt würde.


*Name geändert

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