In der 93-jährigen Geschichte des Beobachters bin ich die erste Frau, die das Editorial schreibt.

Als ich das einem guten Freund erzählte, bekamen wir Streit. Ich hätte erwartet, dass er sich mit mir freut. Oder sich mit mir empört. Darüber, wie hartnäckig sich die Diskriminierung von Frauen hält – auch, wo man es eventuell nicht erwartet. Etwa in der Medienbranche. Editorials werden von Mitgliedern der Chefredaktion verfasst. Frauen gibt es dort kaum.

Mein Freund jedoch fühlte sich angegriffen – und verteidigte sich. Beim Thema Gleichstellung seien wir doch weiter, das sei heutzutage kein wirkliches Problem mehr, als Unternehmer zahle er Mitarbeiterinnen selbstverständlich den gleichen Lohn, und sowieso gebe es dringendere Probleme auf der Welt, den Klimawandel zum Beispiel.

Das mag sein – aber nur wenige Probleme liessen sich so leicht lösen. Fast alle Frauen kennen das. Männer – und auch Frauen –, die sofort dagegenhalten, wenn Frauen über Erfahrungen mit Diskriminierung sprechen. Die der Frau erklären, warum sie übertrieben reagiert, dass ihr Erlebnis keine Diskriminierung war, und wenn, dann allenfalls ein Einzelfall. Und dass Männer schliesslich ja auch schlechte Erfahrungen machten.

Dass diese «Experten» so uns Frauen und unser Erleben einmal mehr nicht ernst nehmen, kleinreden, merken sie nicht oder wollen sie nicht merken. Dabei sprechen die Zahlen für sich: 5,6 Milliarden unbezahlte Arbeitsstunden, 37,1 Prozent weniger Altersrenten, 18,3 Prozent Lohnunterschied (mehr als 7 Prozent nicht erklärbar).

Warum also solche Reaktionen?

Ist es fehlende Betroffenheit, mangelnde Einfühlung? Glaubt man zwar den Partnerinnen, Schwestern, Töchtern – nicht aber den Unbekannten in den Statistiken? Ist es Angst, man müsste selbst Abstriche machen? Beim Lohn, bei der Position? Oder solidarisiert man sich mehr mit dem eigenen Geschlecht?

Was es auch ist, es ist schade. Niemand ist davor gefeit, sich sexistisch zu verhalten – auch Frauen nicht. Nur wer seine Ansichten und Reaktionen immer wieder hinterfragt, kann die Welt verändern. Alle können bereits im Kleinen viel bewirken – und so für alle viel gewinnen. Zuhören wäre ein guter Anfang. Erlebnisse und Forderungen ernst nehmen. Sich solidarisch zeigen. Etwa der Kollegin den eigenen Lohn verraten. Damit sie den gleichen einfordern kann.

 

Was muss sich ändern?

Am 14. Juni 2019 streiken die Frauen und die solidarischen Männer wieder – erstmals seit fast 30 Jahren. Aus diesem Anlass haben meine Kolleginnen und Kollegen für die Titelgeschichte «Streik: Warum Frauen genug haben» typische Schweizer Frauen besucht. Sie wollten wissen: Was muss sich ändern, damit die seit fast 40 Jahren gesetzlich verankerte Gleichstellung Wirklichkeit wird?

Mit unserem Themenschwerpunkt wollen wir ein Zeichen setzen und einen Beitrag zur Debatte liefern. Auch sprachlich. Für einmal ist die Mehrzahl weiblich: Mit «Leserinnen» sind die «Leser» mit gemeint.

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Quelle: Beobachter