Mit einer schwer kranken Frau habe sie ein neues Begrüssungsritual gefunden, das Covid-19-konform ist: «Wir stellten uns Rücken an Rücken und spürten einander. Die Nähe, Wärme und Weichheit unserer Körper. Berührungen sind wichtig», sagt Ella de Groot, man fühle so die Stimmung der anderen Person. Geht es ihr gut? Ist sie angespannt? Traurig?

Die 63-Jährige ist Pfarrerin der reformierten Berner Kirchgemeinde Muri-Gümligen. Seit dem Ausbruch der Pandemie muss sie fantasievoll sein und probiert viel Neues aus. Andere kranke Gemeindemitglieder begrüsse sie jeweils, indem sie die Fussgelenke umfasse, sagt die schlanke, grosse Frau mit der weissen Kurzhaarfrisur. «Berührung, Beziehung, Austausch – das macht Seelsorge aus, gerade auch in Krisensituationen.»

So hält Ella de Groot nun seit einem Jahr virtuelle Gottesdienste («Geht besser als gedacht») und macht telefonische Seelsorge. Trauerfeiern finden vermehrt draussen statt, gezwungenermassen meist im kleinen Rahmen. «Vor der Pandemie wünschten sich viele Angehörige eine kleine Feier. Nun, wo sie das müssen, hätten viele gern eine grosse», erzählt sie.

«Alle sollen von einem toten Menschen Abschied nehmen können, die das wollen. Die Einschränkungen sind hart. Ab und an führt das Auswählen-Müssen der Beerdigungsgäste zu Spannungen in den Familien.»

Die Pfarrerin geht auch zu den Leuten nach Hause für Einzelseelsorge oder macht Spaziergänge mit ihnen. Immer mit Abstand: «Ich muss mich, aber auch die anderen schützen.» Die Maske behält sie darum an.

«Die Kirche ist – ausser bei Trauerbegleitung – nicht systemrelevant. Da sollten wir uns nicht zu wichtig nehmen.»

Ella de Groot, reformierte Pfarrerin

Die Schliessung der Kirchen und begrenzte Teilnehmerzahlen an Gottesdiensten findet sie richtig. «Die Kirche ist – ausser bei Trauerbegleitung – nicht systemrelevant. Da sollten wir uns nicht zu wichtig nehmen.» 5700 Mitglieder zählt ihre Gemeinde, rund 80 besuchen jeweils den Gottesdienst. «Die virtuellen Feiern sind beliebt, auch weil sie mehrmals angeschaut werden können.»

Die gebürtige Niederländerin folgt nicht der traditionellen Kirche, sie geht einen eigenen Weg. «Es gibt keinen Gott, keinen Allmächtigen im Himmel», sagt sie.

Trotzdem sei sie ein tiefgläubiger Mensch. «Glauben ist Beziehung. Ich glaube an das Leben, an den Gesamtsinn davon.» Sie sei keine Autoritätsperson, die alles wisse. «Wenn ich sage: ‹Ich glaube›, dann meine ich, dass ich dem Leben vertraue – trotz allem Leid, trotz allen Enttäuschungen, trotz aller Gewalt und Tragik. Glauben heisst für mich Ja sagen zum Leben.»

Zehn Jahre lang gehörte sie dem Care-Team des Kantons Bern an. Dort wurde sie immer wieder zu Menschen gerufen, die traumatisierende Erlebnisse hatten. «Ich konnte ihnen nicht sagen, dass es oben im Himmel einen gibt, der ihnen hilft. Aber ich konnte da sein und zuhören. Trost besteht nicht aus Worten, sondern aus einer Haltung.»

Manifest der Kirchen

In der Schweiz fallen jede Woche Dutzende Menschen dem Virus zum Opfer – bald sind es 10'000. Während ihre Zahl jeden Tag kommuniziert wird, bleibt es um die Verstorbenen selbst still. Eine Gruppe von Pfarrpersonen rief deshalb im «Corona-Manifest der Zürcher Kirchen», auf dem Höhepunkt der zweiten Welle Mitte November, zu einem anderen Umgang mit dem Sterben auf. Es könne nicht sein, dass Menschenleben zum blossen «Bestandteil einer Statistik» degradiert würden.

Pfarrerin Ella de Groot ist eine der Erstunterzeichnerinnen des Manifests. «Bei der reinen zahlenmässigen Auflistung gehen so viele Menschen vergessen. Hinter jedem Toten stehen Familienangehörige, Freundinnen und Arbeitskollegen.»
Es sei auch «absolut nötig», die Verstorbenen zu würdigen. Deshalb waren auch all die Lichteraktionen der Kirchen mit vielen Kerzen im November und Dezember so wichtig. «Sie gaben den Toten ein Gesicht, ein Andenken, in dieser dunklen Zeit», ist Ella de Groot überzeugt.

Sterben ohne eine Berührung

Während des Shutdowns musste sie einen Mann beerdigen, der an Covid-19 verstorben war. Seine Frau durfte ihn vor seinem Tod nicht mehr berühren, keinen Haut-zu-Haut-Kontakt haben. Überall waren nur Schutzanzüge und Gummihandschuhe. Das sei für die Frau sehr schwierig gewesen.

«Das Ehepaar hielt sich immer die Hand, wenn es unterwegs war. Sie schliefen jeden Abend Hand in Hand ein – und dann durfte sie sich nicht einmal per Handschlag für immer von ihm verabschieden.» Die Warum-Frage konnte sie der Frau nicht beantworten, aber zuhören, den Schmerz formulieren und nachfragen. Seit dem ersten Lockdown habe sich in den Spitälern aber sehr viel getan. «Heute muss niemand mehr allein sterben.»

In einer Predigt zur Gottesfrage im Berner Münster letzten Herbst sagte Ella de Groot: «Der Begriff Gott hat mit Krankheiten, Unfällen, Krisen und Katastrophen nichts zu tun. Es ist ein mythischer Begriff, den der Mensch für seine Sinnstiftung braucht.» Das Wort stehe für eine ganz bestimmte Art, die Welt zu verstehen. Nicht Gott spreche uns an, sondern wir würden von der Welt angesprochen.

«Der Auftrag der Kirche und das Ziel des Gottesdienstes ist es deshalb, zu sprechen über das, was uns unbedingt angeht, wie wir uns als Mensch in Beziehung zur Welt verstehen.» Deshalb machte sie auch Corona wiederholt zum Thema ihrer Online-Gottesdienste.

Mittlerweile habe sie viel mit sehr kranken Menschen zu tun. «Viele entscheiden sich gegen das Spital, weil sie dort keinen oder kaum Besuch haben können. Lieber bleiben sie daheim im Kreis ihrer Liebsten.»

Gott, ein Netzwerk

Das Soziale, die Beziehungen, müsse stärker gewichtet werden gegen die medizinischen Notwendigkeiten. Es seien unvorstellbar schwierige Fragen, mit denen sich Menschen in solchen Situationen auseinandersetzen müssten. Fragen, denen man sich vor der Pandemie so nie stellen musste. «Die medizinische und die seelsorgerische Seite sind manchmal nicht kompatibel», sagt Ella de Groot.

Auch das Impfen sei jetzt ein grosses Thema in der Seelsorge. Wie solle sie es einem 96-jährigen Heimbewohner übelnehmen, der sich nicht impfen lassen will? Weil er findet, seine Zeit komme ohnehin bald, da wolle er doch nicht noch reinpfuschen. «Alle müssen ihre Würde behalten dürfen und selbstbestimmt handeln können.»

Abstand und Ruhe finde sie beim Kontrabass-Spielen. «Die Saiten vibrieren in der Tiefe so schön», sagt de Groot. «Was uns unbedingt angeht, ist das, womit wir uns in Beziehung wissen und spüren.» Das Wort Gott bedeutet für sie insbesondere auch «ein Netzwerk von Beziehungen».

Gerade jetzt zeigt sich, wie sehr der Mensch den Kontakt braucht. Einer der Leitsätze des Kirchenmanifests lautet denn auch: «Mensch-Sein ist mehr als Gesund-Sein: Soziale Bedürfnisse sind neben den gesundheitlichen gleichwertig wahrzunehmen.»

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