Es keift und zetert aus den Zeitungsspalten: «Hier sind wir doch in der Schweiz, wir essen Rösti und keine Vögel und Katzen!» Dabei hat die Schreiberin ein paar Zeilen weiter oben noch geschmeichelt, die Küche der Italiener «mag prima sein, die beste der Welt» – beides in einem Leserbrief vom Oktober 1961 im Genossenschaftsblatt «Wir Brückenbauer». Aber eben, diese fremdartigen Menschen dahinter, deren Essgewohnheiten so sind wie sie selber: primitiv, minderwertig. Die abgeschottet in ihren engen Wohnungen in Blocksiedlungen hausen, in den «Italienerfallen», wo sie Kleintiere halten und in den Badewannen Gemüse anpflanzen, wie Schweizer in Umfragen vermuten.

Vorurteile und negative Stereotypen über die «Tschinggen» sitzen tief in den Köpfen in jener Zeit. Die aufkommende Überfremdungsdebatte in den sechziger Jahren verstärkt die ablehnende Haltung gegenüber den Immigranten aus dem Mezzogiorno erst recht. Die offizielle Schweiz ist gerade verwundert zur Einsicht gelangt, dass die Arbeitskräfte, die im wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Krieg mit ihren Familien zu Hunderttausenden über die Alpen gekommen sind, sich langfristig hier niederlassen würden, statt wie geplant nach Kalabrien oder Apulien zurückzukehren.

Unter diesen Vorzeichen lässt sich die bisherige Einwanderungspolitik der «Nicht-Integration» nicht länger aufrechterhalten. 1964 schafft der Bundesrat mit dem sogenannten Italiener-Abkommen verbesserte Aufenthaltsrechte. Auch deswegen kochen in der Öffentlichkeit die Emotionen zusehends hoch. Dabei hat man für die Eingliederung der Ausländer die vorsichtige, weil einseitige Variante gewählt: Assimilation – die anderen sollen sich gefälligst anpassen, sich «verschweizern», wie das genannt wird. Entsprechend gering bleibt die Bereitschaft, über kulturelle Unterschiede hinwegzusehen. Der gönnerhafte Vermerk eines früheren Berner Fremdenpolizeivorstehers in der Broschüre «Vom Anderssein zur Assimilation» ist da schon das höchste der Gefühle: «Der Ausländer kann assimiliert sein und trotzdem Olivenöl verwenden.»

Überhaupt ist erstaunlich, wie oft auf Kulinarisches zurückgegriffen wird, wenn es um Völkerverständigung geht. Etwa so: «Es wird lange dauern, bis wir Schweizer und die Italiener uns aneinander gewöhnt haben», heisst es in einem Zeitungskommentar. «Ein Haupthindernis ist die Verschiedenheit der italienischen und der schweizerischen Essgewohnheiten.»

Bauchgefühl kommt vor dem Verstand

Aufgestöbert hat diese Passagen Sabina Bellofatto bei den Recherchen für ihre Doktorarbeit. Die Zürcher Historikerin, selber eine Seconda, zeichnet darin den Weg der italienischen Küche in den Schweizer Alltag nach. Dabei geht es auch um die Frage, inwieweit die Kulinarik den Brückenschlag zwischen unterschiedlichen Mentalitäten fördert. Fazit: Der Bauch nimmt das Fremde schneller an als der Verstand – es sei denn, man führe diesen ein wenig an der Nase herum.

Dass das Essen aus Italien die Herzen der Schweizer leichter erobern konnte als die Menschen, die es mitbrachten, hat für Bellofatto verschiedene Gründe. Erstens ganz praktische: «Die italienische Küche ist dankbar, weil sie modifizierbar ist und somit viele Anknüpfungspunkte zu unterschiedlichen Geschmäckern bietet.» Anderen Migrationsküchen fehlt diese Zugänglichkeit, etwa der sperrigen Balkanküche oder asiatischen Spezialitäten, für die Zutaten schwer zu bekommen sind.

Ein weiterer Faktor ist die Verführung im Kopf. Ab Mitte der fünfziger Jahre können sich Schweizer Familien Ferien an der Adria leisten, Italien weckt dadurch positive Bilder von Sonne und Meer, von dolce far niente. Diese Sehnsuchtsmotive, von der Tourismus- und der Werbebranche eifrig befeuert, schaffen in den sechziger und siebziger Jahren neue Bedürfnisse. Besonders die – notabene Schweizer – Teigwarenhersteller bewirtschaften sie gezielt: Zeitungen und Magazine sind voll mit grossflächigen, farbigen Inseraten, in denen die einheimischen Produkte durch Namenszusätze wie «Tomato», «Napoli» oder «della Nonna» auf Italienisch getrimmt sind. Bellofatto spricht von «hybriden Lebensmitteln» mit italienischen und schweizerischen Elementen.

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Quelle: Roberto Ceccarelli

«Mindestens eine viertel Million Pizzas gemacht»: Laerte Iacovino, der erste Pizzaiolo der Schweiz

Quelle: Roberto Ceccarelli
Essen beliebter als ihre Landsleute

Das widerspiegelt sich auch in der Zubereitung. Ein Paradebeispiel dafür sind die Spaghetti bolognese, ein international ständig angepasstes Gericht, das sich als Inbegriff der italienischen Küche etabliert hat – dabei ist es in dieser Rezeptur in der Regionalküche von Bologna, ja in ganz Italien unbekannt. «Was sich hierzulande durchgesetzt hat, ist ein Konstrukt aus idealisierten Vorstellungen der italienischen Küche», so Bellofatto. Von dieser Vereinnahmung der Italianità auf der Sinnesebene profitieren Italiener in der Schweiz aber nicht. Im Gegenteil: Die Geringschätzung ihnen gegenüber mündet Ende 1970 in die hoch emotionale Volksabstimmung zur «Überfremdungsinitiative» von James Schwarzenbach. Der Vordenker, ein rechtspopulistischer Nationalrat, reisst mit einem unverhohlen fremdenfeindlichen Abstimmungskampf tiefe Gräben in die Gesellschaft. Am Ende lehnen 54 Prozent der Stimmenden das Ansinnen ab. Wäre es nach dem Willen der 46 Prozent Befürworter gegangen, hätten gegen 300'000 Menschen, mehrheitlich aus Süditalien, ausgewiesen werden müssen. 1974 und 1977 scheitern zwei weitere Initiativen mit ähnlicher Stossrichtung.

Mitte der siebziger Jahre gehen viele Italiener von sich aus, allein 70'000 zwischen 1974 und 1976. Genauer: Die internationale Wirtschaftskrise, die auch die Schweiz erfasst, zwingt sie dazu. Aus diesen ausgeprägten Migrationsbewegungen leitet Sabina Bellofatto ab, dass Tagliatelle, Penne oder Fusilli sich genau in jener Zeit endgültig auf der Speisekarte der Schweizer etablierten. Bis dahin entwickelte sich nämlich der Pastakonsum in der Schweiz parallel zur Grösse der italienischen Gemeinschaft, doch fortan stieg der Absatz weiter markant an, obwohl weniger Italiener im Land lebten.

Die Schweizer wurden somit selber zu den «Spaghettifressern», als die sie die Einwanderer aus dem Süden einst verhöhnt hatten – eine pikante Konsequenz. «In der Ernährung fand eine kulturelle Anpassung der Schweizer Mehrheit an die italienische Minderheit statt», bilanziert Bellofatto. Auch wenn das nur bedingt mit den Immigranten selber zu tun hatte.

Irgendwann kommt die Zuneigung dann doch. Als in den achtziger Jahren vermehrt Leute aus dem Balkan und aus nichtwesteuropäischen Ländern einwandern, wird den Schweizern die kulturelle Nähe zu Italien zunehmend bewusst: Das einstmals Fremde hat durch das noch Fremdere seinen Schrecken verloren. Zudem leben nun bereits Italiener der zweiten und gar der dritten Generation in der Schweiz, sind Kollegen am Arbeitsplatz, Freunde in der Schule und Mitspieler auf dem Fussballplatz. Das fördert die Liebe auf den zweiten Blick zusätzlich.

«Eine kurzfristige Modeerscheinung»

Kulinarisch ist das Belpaese aus dem hiesigen Alltag ohnehin nicht mehr wegzudenken. Weil die Vorschriften für die Restaurants gelockert werden, schiessen vor allem Pizzerien aus dem Boden und werden bis in die hinterste Ecke des Landes zum Allerweltsgut. Ein verblüffender Werdegang, musste doch keine 20 Jahre zuvor den Schweizern erst noch erklärt werden, was eine Pizza überhaupt ist: «eine Art Wähe» nämlich. Und als der Gastrounternehmer Rudolf Bindella 1965 im Zürcher Kreis 5 die erste Holzofenpizzeria der Schweiz eröffnete, stiess er intern erst auf heftigen Widerstand, wie der heutige Firmensprecher Hans-Jörg Degen aus dem Nähkästchen plaudert. «Hände weg!», sei dem Seniorchef bedeutet worden, denn die Pizza sei bloss eine «kurzfristige Modeerscheinung» und schon bald wieder vergessen. Das Lokal wurde innert Kürze zum durchschlagenden Erfolg und Laerte Iacovino, der erste Pizzaiolo dort, zum Stadtoriginal.

Die achtziger Jahre stehen schliesslich auch für das Aufkommen der italienischen Kultur abseits von Pfannen und Töpfen. Hatten bis dahin nur schmalzgelockte Schnulzensänger ein Publikum in der Schweiz, so interessieren nun plötzlich auch bärtige Cantautori, die sich gesellschaftskritisch gerade mit Themen wie Heimat oder Auswanderung auseinandersetzen. Als einer der Ersten dieser Bewegung schafft es Francesco De Gregori Anfang 1980 wochenlang in die Schweizer Hitparade, bis hinauf in die Top Ten. Der Titel des Liedes, mit dem die warmherzigen Nachbarn aus dem Süden die Festung Schweiz endgültig knacken, ist geradezu programmatisch: «Viva l’Italia».