Andrin Brändle steht im Innenhof des schmucken Vöhlinschlosses und schiesst Fotos. Von den Erkertürmchen, der Schlossbrücke, der Arkadengalerie. Und natürlich vom tollen Ausblick, den man von der Anhöhe geniessen kann, über die grasenden Damhirsche hinweg auf das bayerische Städtchen Illertissen.

Aber Brändle ist nicht wegen dieses Baus aus dem 15. Jahrhundert hier. Er hat die zwei Stunden Anfahrt mit dem Auto auf sich genommen, weil bald ein Fussballspiel stattfindet: FV Illertissen gegen Wacker Burghausen, Regionalliga Bayern, die vierthöchste Liga in Deutschland. Denn Andrin Brändle ist Groundhopper.

Es muss gespielt werden

Groundhopper wollen in möglichst vielen Stadien Fussballspiele besuchen. Um sich miteinander messen zu können, gilt eine einfache Rechnung: Für jeden besuchten «Ground» gibt es einen Punkt, für jedes besuchte Land einen Länderpunkt. Einzige Regel: Es muss ein Fussballspiel stattfinden, ob in einer Champions-League-Arena oder auf einem Dorfplatz.

Brändle steht mittlerweile bei 46 Länderpunkten, 584 Stadien und 890 Spielen. Umgerechnet heisst das: Er hat fast zwei Monate ununterbrochen mit Fussballschauen zugebracht. Damit ist er unter den Groundhoppern ein kleiner Fisch, einige weisen mehrere Tausend Stadionbesuche aus. Erstaunlich ist es gleichwohl, denn der 25-jährige St. Galler ist noch gar nicht so lang dabei.

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Haben Sie auch schon ein «Fussball-Reisli» unternommen? Im In- und Ausland volle, leere oder ausgediente Stadien fotografiert? Schicken Sie uns Ihre Lieblingsbilder mit einer kurzen Erklärung, wo, wann und bei welchem Match sie entstanden sind. Die besten Fotos werden in einer Online-Galerie auf Beobachter.ch publiziert.

Beiträge per Mail an info@beobachter.ch mit dem Betreff «Groundhopper»

Schon im Kindesalter übten Stadien eine unerklärliche Anziehungskraft auf ihn aus. Sehnsüchtig schaute der kleine Andrin jeweils aus dem Autofenster ins gleissende Flutlicht, wenn die Familie an Matchtagen an einem Stadion vorbeifuhr. Im Oktober 2012 nimmt ihn sein Vater in den England-Ferien erstmals mit – es spielt Brentford gegen Crawley Town in der 3. Liga –, und Andrin ist sofort infiziert.

Fortan besucht er auf Reisen immer auch Fussballspiele, bald darauf reist er eigens, um Fussball zu schauen. «Der Übergang verlief so schleichend, dass ich gar nicht bemerkt habe, dass ich nun ein Groundhopper bin», sagt er.

Ein «Hochrisikospiel»

Natürlich hat Brändle schon zu Hause recherchiert, wo er das Auto abstellen kann. 12 Euro kostet der Eintritt ins Vöhlinstadion, das zu Recht auf der Wikipedia-Seite von Illertissen nicht unter den Sehenswürdigkeiten aufgeführt ist. Eine Leichtathletikbahn zieht sich ums Spielfeld, auf einer Seite Betonstufen und eine kleine, schlichte Tribüne, auf der anderen ein umzäunter Grashügel. Das Sanitätspersonal gönnt sich im Liegestuhl noch etwas Abendsonne, Kinder jagen einem Ball nach. Die Gästefans müssen sich im Gatter auf dem Grashügel einrichten, denn die heutige Partie wurde – warum auch immer – als «Hochrisikospiel» eingestuft.

Andrin Brändle nimmt sich Zeit vor einem Matchbesuch. Er liest sich ein, kennt Geschichte und Geschichten der Vereine und will auch etwas von den Städten sehen. Das war nicht immer so. Wie so viele Groundhopper verfiel auch er einst der Komplettierungssucht: Er wollte alle Stadien der vier höchsten Schweizer Ligen besucht haben, verliess sie teilweise mitten im Spiel, um noch weitere abhaken zu können.

Höhere Ansprüche

Mit 18 Jahren bestimmt das Groundhoppen das Leben von Andrin Brändle. Einmal fährt er am Donnerstag an ein Europacupspiel von Atalanta Bergamo und nach dem Abpfiff zurück, schläft im Auto auf einem Parkplatz, legt dann die Semesterprüfung ab, reist danach im Flixbus nach Berlin ans Spiel Union gegen Dynamo Dresden, fliegt von da nach Griechenland, um PAOK Thessaloniki gegen Panathinaikos zu sehen, schlägt sich die Nacht in einem Technoclub um die Ohren und fliegt morgens zurück in die Schweiz, um nachmittags pünktlich auf der Arbeit zu erscheinen. Brändle muss selber schmunzeln, als er diese Episode erzählt.

«Viele zeigen keinerlei kulturelles Interesse. Sie besuchen ein Spiel, stellen ein Foto der Stadionwurst auf Instagram und haben das Erlebnis bald darauf vergessen.»

Andrin Brändle, Groundhopper

Irgendwann – wieder einmal steht er an irgendeinem Fussballplatz – erwacht er aus seinem Rausch und stellt fest, dass ihm der Spass abhandengekommen ist. «Wenn du 130 Spiele in einem Jahr besuchst, macht das nicht immer nur Freude», sagt er. Es ist auch eine «Kapitulation vor der Grösse der Fussballwelt», wie er es formuliert. Über 70'000 Stadien listet die Groundhopping-Website Europlan allein für Europa auf. Unmöglich, die auch nur annähernd komplett zu haben. Für Brändle fehlt so der Reiz, für beliebige Spiele Kilometer abzuspulen.

Mittlerweile sind seine Ansprüche gestiegen: Den Sportplatz auf dem Dorf lässt er aus, mindestens eine Tribüne muss vorhanden sein. Und er achtet darauf, dass er einen bedeutenden Match erwischt. Ein Rivalen-Derby in Belgien, einen Cupfinal in Polen, ein Aufstiegsspiel im Wallis.

In der Szene werden solche Leute abschätzig als «Rosinenhopper» bezeichnet. Brändle juckt das nicht. Überhaupt findet er nicht nur lobende Worte für seine Hobbykollegen: «Viele zeigen keinerlei kulturelles Interesse. Mit einer Groundhopping-App finden sie heute auf dem Handy in zwei Minuten ein Spiel. Das besuchen sie dann, stellen ein Foto der Stadionwurst auf Instagram und haben das Erlebnis bald darauf vergessen.» Von der Stadt, den Fans, von der Geschichte der Vereine wollen sie nichts wissen. 

Faszination Fankultur

In Illertissen inspiziert Brändle wie immer zuerst das Stadion. Während sich die beiden Teams auf dem Rasen einspielen unter den scheppernden Klängen der in die Jahre gekommenen Lautsprecheranlage, dreht er eine Runde um den Platz, um einen guten Ort für Fotos zu finden. Die Fotografie ist seine zweite Passion. Er wechselt wiederholt die Objektive, knipst mal Spieler, mal Zuschauer, mal Wurststand. Derweil richtet sich die Handvoll Gästefans in ihrem kleinen Reich ein und beflaggt den Zaun mit Fahnen.

Als Sportredaktor bei SRF beschäftigt sich Andrin Brändle beruflich mit Taktik, Toren und Transfers, privat interessiert er sich mehr für die soziokulturellen Aspekte des Fussballs – und damit auch für die Fans. Als Anhänger des FC St. Gallen lernte er die Fankurve kennen, seither übt sie auf ihn auch anderswo eine Faszination aus.

«Ob eine Partie gut oder schlecht ist, ist mir nicht wichtig. Hauptsache, es gibt kein 0:0.»

Andrin Brändle, Groundhopper

2019 verbrachte er den Sommer in Indonesien, freundete sich mit den Ultras des Vereins PSS Sleman an und begleitete sie an Spiele. Aus seinen Erfahrungen und Fotos entstand ein Buch («Ein Sommer mit Sleman»); einen Teil des Erlöses brachte er kürzlich auf die Insel Java, das Geld kommt Bedürftigen im Umfeld des Vereins zugute.

Brändle ist begeistert von der indonesischen Fankultur: «Für viele hat dort der Verein als Ausgleich zum schweren Leben eine enorme Bedeutung. Dagegen ist das Ultra-Fandasein bei uns bloss eine Wochenendbeschäftigung.»

Als es Anfang Oktober in einem Stadion zur Katastrophe kommt, wird Andrin Brändle plötzlich zum gefragten Indonesien-Experten. Bei Ausschreitungen und einer Massenpanik sterben über 130 Menschen. Brändle gibt mehreren Medien Auskunft, berichtet und ordnet ein. So fassungslos ihn die Ereignisse machen, so tief bewegt ihn die gemeinsame Trauer der ansonsten verfeindeten Lager. «Was die Fans in Indonesien derzeit an clubübergreifender Solidarität – auch unter jahrzehntelangen Erzfeinden – beweisen, ist enorm beeindruckend», schreibt er auf Twitter.

In allen Stadien gilt Brändles Blick besonders den Zuschauern. Es gefällt ihm, wenn Leute mitfiebern und mitleiden, wenn sie ausbrechen aus Konventionen, wenn sie schreien und jubeln, wie das nur in einem Stadion möglich ist. Dafür braucht es den entsprechenden Spielverlauf. Für Andrin Brändle heisst das: «Ob eine Partie gut oder schlecht ist, ist mir nicht wichtig. Hauptsache, es gibt kein 0:0.»

«Das Vereinsleben existiert!»

Zu AC/DCs Kracher «Hells Bells» laufen nun endlich die Teams ein. Kaum verebbt die Musik, legt sich gespenstische Stille über den Platz. Auf der Tribüne hämmert ein Kind ohne jegliches Taktgefühl auf eine Trommel ein, die Burghausener stimmen ein mässig originelles «Olé Schwarz-Weiss» an. Die Partie haut keinen der 375 Zuschauer von den Socken. Die Emotionen, die Brändle sucht, fehlen noch. Lebhaft wird es erst in der Pause, als das überforderte Personal im Vereinsheim versucht, die Wurst-, Pommes- und Bierbestellungen in der richtigen Reihenfolge abzuarbeiten.

Brändle ist mehrheitlich allein unterwegs. Seine Art, Fussball zu geniessen, sei «nicht kompatibel», räumt er ein. In einer Beziehung ist er derzeit nicht. Er ist aber ohnehin am liebsten als Beobachter ganz für sich. Heute gelingt ihm das nicht, denn er wird in ein Gespräch mit dem Medienchef von Illertissen verwickelt – selbst ein passionierter Hobbyfotograf –, aus dem er sich nur mit Mühe wieder befreien kann.

Als die zweite Halbzeit längst läuft, sind die Tischchen vor dem Clubhaus noch immer alle besetzt. Senioren murren über missglückte Flanken, die Gruppe Frauen daneben beachtet das Spiel hingegen überhaupt nicht, sondern unterhält sich laut und rauchend über eine stattliche Anzahl leerer Weingläser hinweg, während ihre Kinder als Balljungen warten, bis ihre Dienste benötigt werden.

Andrin Brändle lächelt zufrieden im Sonnenuntergang: «Hier sieht man: Das Vereinsleben existiert! Wo findet man denn etwas Vergleichbares an einem Dienstagabend?» Er zieht diese Fussballwelt jederzeit jener der gleichzeitig terminierten Champions League vor.

Die Partie nimmt noch immer nicht richtig Fahrt auf. Illertissen ist besser, kommt aber zu keinen nennenswerten Chancen. Der Albtraum der Groundhopper wird Tatsache: Es bleibt beim 0:0. Die Spieler klatschen sich ab und trotten langsam Richtung Kabine. Bald darauf wird das Flutlicht gelöscht, das Vöhlinstadion versinkt bis zum nächsten Heimspiel in einen zweiwöchigen Schlummer.

Erfüllt von den Klängen italienischer Cantautori – für Brändle Erinnerungen an einen Stadionbesuch in Lecce –, rollt sein Wagen durch herausgeputzte bayerische Dörfer, in denen überall auch ein Verein wie der FV Illertissen beheimatet ist. 300 Kilometer wird Brändle zurückgelegt haben, wenn er zu Hause in der Ostschweiz ankommt.

891 Stadionbesuche

Das Verständnis für Groundhopper, die für 90 Minuten mal eben quer durch Europa jetten, hat in der Klimakrise kaum zugenommen. Das versteht auch Brändle. «In meiner intensivsten Phase bin ich pro Jahr zweimal um die Welt geflogen.» Heute sei er mehr sensibilisiert, reise bisweilen auch mit dem Zug an. Er stellt aber klar: «Wenn ich unbedingt ein Spiel sehen will, dann hindert mich nichts daran.» 

Auch zu diesem Ausflug nach Illertissen wird Andrin Brändle einen Bericht verfassen und ihn auf seiner Website aufschalten, wie es einige Groundhopper machen. Ihm hilft das, seine unzähligen Fussballreisen besser in Erinnerung zu behalten.

Und was bleibt ihm von diesem Ausflug nach Bayern, seinem 891. Stadionbesuch? Brändle überlegt. «Es war eine schöne Portion Fussballromantik, aber lange nachhallen wird dieses Erlebnis nicht.» Ein Groundhopper wie Andrin Brändle bereut aber nichts. Der nächste Match wartet bereits. Wenn er bloss nicht 0:0 endet.

Screenshot der Website von Andrin Brändle
Folgen Sie Andrin Brändle um die Welt

Möchten Sie mehr über Andrin Brändle und seine Groundhopping-Destinationen erfahren? Alle besuchten Stadien und die dazugehörigen Berichte finden Sie auf seiner Website unter www.andrinunterwegs.ch/stadionliste/

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Quelle: Beobachter
Beobachter-Spezial

Die Weltmeisterschaft in Katar hat begonnen. Fussball ist aber mehr als Spitzensport und Big Business. Doch was ist er eigentlich? Der Beobachter hat sich umgesehen – und den Fussball in seiner ganzen Vielfalt angetroffen. Zum Beispiel an der Bergdorfmeisterschaft im Wallis und in den launigen Erzählungen der Reporterlegende Beni Thurnheer; unterwegs mit einem Groundhopper oder bei einem Juniorentrainer, der auch Sozialarbeiter und Ermutiger ist. Geschichten über den etwas anderen, den echten Fussball. Über die Gefühle, die er weckt, und die Menschen, die ihn ausmachen. Mit schönen Grüssen nach Katar: das Beobachter Spezial «Unser Fussball» inklusive Video, Audio und Wettbewerb.

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