Frau Kalenberg, wie gelingt es, den Sterbenswunsch einer geliebten Person zu akzeptieren?
Wenn ein geliebter, schwer kranker Mensch gehen möchte, können das viele Angehörige anfangs nicht akzeptieren und schon gar nicht gutheissen. Es lohnt sich, sich in den anderen hineinzuversetzen. Sich zu fragen: Was würde ich mir von meinen Angehörigen wünschen? Angehörige können versuchen, innezuhalten und sich auf solche und andere Fragen rund ums Sterben einzulassen. Es bringt nichts, die Augen zu verschliessen. Wer beim Sterben schonungslos hinschaut, nutzt die Chance, dass die letzte gemeinsame Zeit zu einem grossen Geschenk werden kann.


Ein grosses Geschenk?
Wer hinschaut, statt wegzuschauen, fühlt sich weniger ohnmächtig. Denn man hat dann die Chance, die verbleibende Zeit aktiv mitzugestalten. Vorausgesetzt, man getraut sich, auf die sterbende Person zuzugehen und mit ihr zu reden.


Worüber sollte man sich austauschen?
Am Anfang gehts oft um Organisatorisches: Welche Musik soll bei der Beerdigung gespielt werden? Soll es eine Erdbestattung geben oder eine Kremation? Es gibt Sicherheit, solche Fragen besprochen zu haben. Danach bleibt Raum für anderes. Es ist wertvoll, zu erfahren, wie es der anderen Person mit dem nahenden Ende geht, wie sie auf das Leben zurückblickt und was sie auf den letzten Metern des Lebens noch wünscht. Damit tun sich auch die Angehörigen etwas Gutes: Ein Teil der Trauerarbeit wird vorweggenommen.

Julia Kalenberg ist selbständige Trainerin und Coachin und hat sich mit der Sterbebegleitung auseinander­gesetzt. Sie ist Autorin des Buchs «Und jetzt zeigst du uns, wie Sterben geht» (Verlag Zytglogge). Kalenberg hat beide Eltern im Sterben begleitet.

Julia Kalenberg ist selbständige Trainerin und Coachin und hat sich mit der Sterbebegleitung auseinandergesetzt. Sie ist Autorin des Buchs «Und jetzt zeigst du uns, wie Sterben geht» (Verlag Zytglogge). Kalenberg hat beide Eltern im Sterben begleitet.

Quelle: Privat

Wie meinen Sie das?
Wenn man als Angehörige etwa erfährt, dass der Sterbende zufrieden auf sein Leben zurückblickt oder ohne Angst ist, dann kann das – neben all der Trauer – ein gewisser Trost sein. Im Gegenzug kann es belastend sein, wenn man nur mutmassen kann, wie es dem Sterbenden in den letzten Tagen vielleicht ergangen ist. Offene Fragen und Unausgesprochenes können an Angehörigen nagen – lange über den Tod des geliebten Menschen hinaus.


Wie kann man über das Sterben reden?
Die meisten Menschen scheuen solche Gespräche. Es wird viel mehr interpretiert, was jemand will oder eben nicht will, als dass man offen miteinander spricht. Ich rate Angehörigen, ihre eigene Unsicherheit zu thematisieren. Man soll ruhig zugeben, wenn man mit der Situation überfordert ist und nicht weiss, ob und wie man die Sterbende überhaupt darauf ansprechen kann. Wer sich selbst offen und verletzlich zeigt, ermutigt so das Gegenüber, sich genauso zu öffnen. Doch sollte man auch Verständnis haben, wenn es nicht gelingt, über das Sterben oder über eine schwere Krankheit zu sprechen.
 

Ist die beste Angehörige jene, die die Wünsche des Sterbenden am besten erfüllt?
Nein. Die beste Angehörige ist jene, die auch auf sich achtgibt. Die weiss, was sie braucht, um den anderen gut begleiten zu können und die ihre eigenen Bedürfnisse offen äussern kann. Wer joggen gehen will, soll joggen gehen. Wem ein geordneter Büroalltag hilft, der soll sich das so einrichten. Angehörige müssen sich nicht aufopfern. Das nützt niemandem. Wer gestresst ist, überträgt dies auch auf den Sterbenden. Als Angehörige sollte man sich erlauben, nicht alles tun zu «müssen». Sonst ist man schnell überfordert.


Gibt es verschiedene Phasen des Abschiednehmens oder des Trauerns?
Ich würde eher von Wellen sprechen. Sonst könnte der Eindruck entstehen, dass es bei der Trauer einen linearen Prozess gibt, dass eine Phase nach der anderen kommt. Dabei können Fragen nach dem Warum, Gefühle wie Wut und Verzweiflung immer wieder über einen hereinbrechen. Trauer ist ein Gefühl wie jedes andere auch. Sie darf sein und muss nicht «überwunden» werden – schon gar nicht möglichst schnell. Darüber hinaus hilft es sicher, wenn man sich schon früher mit dem Sterben und dem Tod auseinandergesetzt hat.


Inwiefern?
Es kann einen auf schwierige Situationen vorbereiten. Und die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit kann Leichtigkeit ins Leben bringen! Wer im Bewusstsein lebt, dass sein Leben endlich ist, lebt viel freier und leichter – weil er trotz aller Verpflichtungen versucht, in seinem Leben Platz zu machen für die Dinge, die ihm wirklich wichtig sind.