November 2008. Draussen leuchten die elektrischen Lichterketten, am Strassenrand liegt matschgrauer Schnee. Abends gehen Sybille und René B. mit ihrem Sohn Uday gemeinsam essen. Der Vater bestellt Uday eine Suppe. Der bald Sechsjährige beginnt zu löffeln – da plumpst sein Kopf in den Suppenteller. Vergeblich versucht er, den Kopf zu heben. Seine Eltern denken, Uday ist müde, legen ihn auf die Bank.

Noch schlimmer ist es am nächsten Tag. Da zuckt und krampft Udays Körper. Wie lange – daran kann sich René B. nicht mehr erinnern. Der erste epileptische Anfall. Seine Eltern bringen Uday in die Notaufnahme des Kinderspitals in Zürich. Dort untersucht ihn Bernhard Schmitt, Leitender Arzt der Epilepsie-Abteilung. Und stellt fest: Udays Gehirn ist entzündet. Er hat sich eine Virusinfektion zugezogen, die schlimmste Folgen haben wird, von epileptischen Anfällen bis zum Wachkoma.

Uday boxt sich durch

Die Ärzte im Kinderspital in Zürich geben Uday erst nur wenige Monate. Doch dann verläuft die Krankheit wie eine Sinuskurve, von der Bergspitze ins Tal – und wieder zurück auf die Bergspitze. Mal gibt es Wochen, in denen Uday vor Aufregung keinen Mittagsschlaf macht. Dann gibt es Tage, an denen er nur vor sich hindämmert. So vergehen die Monate. So vergehen die Jahre. «Uday boxt sich durch», sagt der Vater, wenn ihn in dieser Zeit jemand fragt, wie es seinem Sohn gehe. 

Seither sind mehr als acht Jahre vergangen. Heute ist Uday schwer behindert. Seine Arme verschränkt er wie einen Schutzschild vor der Brust. Er kann nicht mehr sprechen. Er rollt seine grossen, dunklen Augen, blinzelt mit den Lidern, wenn er seinem Vater etwas sagen möchte. Aber die Worte kommen nur noch als Geräusche aus seinem Mund. 

Prognosen über Udays Lebenserwartung geben die Ärzte schon lange nicht mehr ab. Sicher ist, dass der heute 14-Jährige nie wieder gesund werden wird. Gut möglich, dass ihn eines Tages eine Lungenentzündung heimsuchen wird oder ein anderes Virus. Und sein Körper keine Kraft hat, um ihn abzuwehren.

Als er zweieinhalb Jahre alt war, hat das Ehepaar B. Uday adoptiert, aus einem Waisenhaus von Mutter Teresa in Neu-Delhi. Als er vier war, haben sie mit ihm die grösste Hobby-Modelleisenbahn Europas im Toggenburg besucht. Uday mag Eisenbahnen. Er kennt sie aus Indien. Und nun, seit acht Jahren, pflegen sie ihn, Tag für Tag, mit dieser störrischen, immerwährenden Liebe, die Eltern für ihr Kind haben.

Kinderhospiz: Letzte Reise

Ein Beitrag von Fabian Biasio und Sylke Gruhnwald.

Sommer 2016. Familie B. packt. Einen Steh- und einen Lauftrainer legen die Eltern in den Kofferraum ihres VW-Busses, einen Kinder-Rollstuhl, dazu blaue Beinschienen, Windeln und Spritzen mit lila Kolben. Es geht in die Ferien – ins Kinderhospiz St. Nikolaus in Bad Grönenbach im Allgäu, auf halbem Weg zwischen Bodensee und München. Eigentlich dauert die Fahrt drei Stunden. Doch Familie B. braucht länger. Immer wieder muss sie Pausen machen, sonst hält Uday die lange Autofahrt nicht aus.

Es ist das siebte Mal, dass sie vor dem orangefarben gestrichenen Haus mit der gelben Haustür vorfährt. So bunt die Fassade, so fröhlich geht es drinnen zu. Es wird viel gelacht im deutschen Kinderhospiz, das dieses Jahr seinen zehnten Geburtstag feiert. Finanziert wird es über Beiträge der Krankenkassen und über Spenden.

Das Hospiz gibt den Eltern Zeit für sich

Das Haus hat acht Betten für die schwer kranken Kinder und genügend Platz für Eltern und Geschwister. 

Es gibt ein beheiztes Schwimmbad, einen Raum mit einem Trampolin und einen Ruheraum mit Wasserbett und Leuchtröhren. «Fad» findet das Anubhav, der kleine Bruder von Uday. Er spielt lieber Tischfussball. «Da ist mehr Action.»

Hier im Kinderhospiz ist immer jemand da, wenn Uday und seine Familie Hilfe brauchen. Die Kinderkrankenpflegerinnen geben Uday seine Medikamente, wechseln Windeln und passen in der Nacht auf ihn auf. «Wir geben die Verantwortung ab», sagt René B. Für die zwei Wochen, die die Familie im Jahr im Hospiz verbringt. Nur hier, im Hospiz, sind Sybille und René B. wieder ein Paar. Daheim, in der behindertengerechten Fünfzimmerwohnung in Pfäffikon, Kanton Zürich, schläft René B. bei Uday im Kinderzimmer. Vier bis fünf Mal jede Nacht steht er auf und lagert Uday um. Denn der kann sich schon lange nicht mehr allein bewegen. 

Herbst 2016. Frühstück bei Familie B. René B. steht in der offenen Holzküche, Uday immer im Blick. Es gibt Honigbrote. Die mag Uday am liebsten. Der Vater legt die geschmierten Brote in den Küchenmixer, der kleine Bruder hält Uday die Ohren zu, denn der kann Lärm nicht ausstehen. Dann drückt der Vater die Starttaste, anschliessend füllt er das braune Püree in eine Spritze, mit der er es in den Schlauch von Udays Magensonde drückt. Früher ernährte die Familie B. ihren Sohn mit teurer Astronautennahrung. Im Kinderhospiz haben sie gelernt, die Mahlzeiten selbst zuzubereiten. «Und essen», sagt der Vater, «ist ein sozialer Akt, in den wir Uday einbeziehen wollen.»

Mittags gibt es Chinesisch süss-sauer mit Reis. Wieder läuft der Mixer. Nach dem Mittagessen kippt Udays Kopf weg, er schläft ein und macht leise Schnarchgeräusche. Später setzt René B. seinen Sohn in den Rollstuhl, legt ihm schwarze Sitzgurte an und bindet ihm die blauen Beinschienen um die dünnen Unterschenkel. «Erster Fuss, zweiter Fuss», sagt er. Dann schieben die beiden los, durch den gefliesten Gang und die gläserne Haustür, die gelben Lärmschutz-Kopfhörer über den Rollstuhlgriff geklemmt. Falls irgendwo ein Presslufthammer rattert. 

Bis heute lernen nur wenige Ärzte zu helfen, wenn es nichts mehr zu heilen gibt. Für Eva Bergsträsser ist es das Fachgebiet. Sie ist Palliativmedizinerin am Kinderspital in Zürich und leitet ein Team von Ärzten, Pflegefachpersonen, Psychologen und einer Sozialarbeiterin. Gemeinsam betreuen sie unheilbar kranke Kinder und deren Familien im Spital und zu Hause. Umfassend, hoch professionell, aber auch unkonventionell. Zur Not schon mal per SMS.

Hospiz-Initiativen in Bern und Basel

Eva Bergsträsser kennt Uday. Im Frühjahr 2017 war sie das letzte Mal bei Familie B. zu Hause. Gemeinsam mit der Kinderärztin und der Kinderspitex sassen sie um den Esszimmertisch. Uday hatte gerade ein Norovirus überstanden. «Wie sollen wir weitermachen?», fragten die Eltern. Und: «Wer soll das alles bezahlen?» Es mussten Anträge gestellt werden, an die Gemeinde, an die Krankenkasse. 

In der Schweiz gibt es keine Kinderhospize. Initiativen in Bern und Basel möchten das ändern und sammeln Geld für Einrichtungen, die todkranke Kinder und deren Familien aufnehmen können. Sie wollen die Lücke füllen zwischen Spitälern, ambulanter Betreuung und Reha-Kliniken. «Wir müssen einen Ort der Entlastung für die Familien schaffen und einen Ort zum Sterben für die Kinder bauen», sagt eine Initiantin. Nicht jede Familie möchte, dass ihr Kind zu Hause stirbt. Nicht jede Familie schafft das.

Laut dem Bundesamt für Statistik sterben pro Jahr zwischen 400 und 500 Kinder in der Schweiz. Die Ärztin Eva Bergsträsser glaubt nicht, dass in der Schweiz Kinderhospize fehlen. «Hospize sind sehr teuer und kommen zu wenigen kranken Kindern zugute.» 

Ein Hospizplatz in Bad Grönenbach kostet am Tag rund 800 Euro. Die beiden Schweizer Initiativen würden maximal 16 Kindern Platz bieten. Viel besser, sagt Bergsträsser, sei ein Netzwerk aus Fachkräften, wie sie es am Kinderspital in Zürich leitet. Fachkräfte, die die Familien im Spital, zu Hause oder in Langzeitinstitutionen betreuen, dann, wenn sie gebraucht werden. Aktuell kümmern sich Bergsträsser und ihr Team um 60 Kinder und ihre Familien. Sie weiss, dass die Tage im Kinderhospiz für einige Familien der Rettungsring sind, an dem sie sich aus dem Alltag ziehen. 

Wie für Familie B. Sie ist so heilfroh über das deutsche Kinderhospiz, dass die Eltern regelmässig den 184 Kilometer langen Weg auf sich nehmen. Das Hospiz ist nicht nur ein Ort zum Sterben, «es ist ein Lebensort», sagt der Vater. Es geht nicht nur um qualifizierte Betreuung, sondern um die Entlastung der Eltern und der Geschwister. Das eine ist die gute Betreuung. Das andere: dass die Eltern und Geschwister einmal durchatmen können. Wie sehr geniesst es doch das Ehepaar B., abends zu zweit in Bad Grönenbach beim Italiener um die Ecke zu sitzen. Bei Pizza und Rotwein. Weit genug vom Hospiz entfernt, um einmal nur für sich zu sein. Nah genug, falls etwas mit Uday passiert.

Eine bunte Fahne für das Kind

Anderen Eltern ergeht es ähnlich. «Nur hier finde ich die Zeit, zum Coiffeur zu gehen oder mir ein Loch beim Zahnarzt flicken zu lassen», sagt eine Frau, die mit ihrer kranken Tochter einmal im Jahr aus Norditalien nach Bad Grönenbach reist. «Gerade habe ich im Internet einen Handtuchhalter für unser Badezimmer bestellt. Das schaffe ich zu Hause nicht.» 

Auch das ist ein Kinderhospiz: eine Pause vom endlos programmierten Alltag. Ein Ausbruch aus dem Korsett, in das die Betreuung der kranken Kinder die Eltern zwingt. Füttern, waschen, Windeln wechseln. Trost finden im Gespräch mit Eltern, die das gleiche Schicksal teilen – sie alle leben ja in einer verkehrten Welt. Sie wissen, sie werden ihre Kinder überleben. 

Wenn eine Familie das erste Mal kommt, näht und bestickt sie eine Fahne für das todgeweihte Kind. Später hängt die Fahne dann bei jedem Aufenthalt im Flur. Auf Udays Fahne hat Familie B. eine schwarze Lokomotive mit Anhänger genäht. Weil einst die Duplo-Eisenbahn sein liebstes Spielzeug war. Darunter, mit rotem Faden, sein Geburtsdatum. Und oben rechts, in Gelb, eine Sonne. Wie daheim in Pfäffikon, wo eine Sonne aus gelbem Filz am Fenster hängt. 

So vertraut ihnen das deutsche Kinderhospiz inzwischen ist – eines Tages, das weiss Familie B., werden sie vielleicht hierher kommen, um Uday auf seiner letzten Reise zu begleiten. Dann werden auch sie in dem kleinen Andachtsraum sitzen, wo die Kinder einige Tage lang aufgebahrt werden, in einem Katafalk, dessen Kissen aus Stoff mit bunten Schmetterlingen sind. Und dann verabschieden sich alle, die Eltern, die Geschwister, die Kinderkrankenpflegerinnen. Und dann reisen die Eltern und die Geschwister ab, ein letztes Mal. 

Trost im Trauergarten

Familie B. fürchtet sich vor diesem Tag. «Wir haben Angst, allein zurückzukehren», sagt René B. Und nach einer Pause: «Mein letztes Erlebnis mit Uday, als er noch laufen konnte, war auf dem Feld.» Uday mochte das Gras zwischen seinen Zehen nicht. Das kitzelte. In Neu-Delhi hatte er Fussball im staubigen Hinterhof des Mutter-Teresa-Kinderheims gespielt. 

Anubhav, der kleine Bruder, kickt heute auf dem Sportplatz von Pfäffikon. Erst einmal hat er seine Eltern gefragt: «Wird Uday sterben?» Da hat sein Vater geantwortet: «Ja, dein Bruder wird sterben.»

Stirbt im Hospiz St. Nikolaus ein Kind, wird seine Fahne noch vor der Abreise seiner Familie in den Trauergarten gehängt, hinter dem Haus. Zwischen rosaroten Rosen flattert sie im Sommer im Kreis all der Fahnen, die schon dort sind, im Winter bedeckt der Schnee den Trauergarten. Manche Eltern kehren immer wieder hierher zurück. Um Trost zu finden. Während die Fahnen allmählich blasser werden.

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Matthias Pflume, Leiter Extras
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