Steuern sollen bei der Berechnung des Existenzminimums dazugezählt werden. Das hat der Ständerat ohne Gegenstimme entschieden. Der Genfer SP-Politiker Carlo Sommaruga sprach von einem Paradigmenwechsel. Tatsächlich hat der Entscheid weitreichende Folgen – allerdings muss auch der Nationalrat dem Vorstoss noch zustimmen.

Was ist das Problem mit den Steuern und dem Existenzminimum?

Wenn sich eine Person so stark verschuldet, dass sie gepfändet wird, darf sie nur das Geld fürs Nötigste behalten. Etwa für Miete oder Krankenkasse – das sogenannte Existenzminimum. Die Steuern gehören bisher nicht dazu. Die Folge: Gepfändete können die laufenden Steuern nicht bezahlen und machen so zwangsläufig neue Schulden beim Steueramt. Ohne dass sie irgendeinen Fehler begehen. Sie geraten in eine Schuldenspirale und haben oft kaum eine Chance, wieder auf die Beine zu kommen. 

Ein Beispiel

Eine Person verdient 5000 Franken. Weil ihr Einkommen gepfändet wird, darf sie nur das Existenzminimum von 2200 Franken behalten, um damit ihren Grundbedarf fürs tägliche Leben, die Miete und die Krankenkasse zu bezahlen. Die restlichen 2800 Franken zieht das Betreibungsamt ein.

Auf die 5000 Franken Einkommen fallen aber auch Steuern an, sagen wir auf den Monat umgerechnet 200 Franken. Doch womit soll die Person sie bezahlen, wenn sie nur den Betrag für Grundbedarf, Miete und Krankenkasse behalten darf? Ende Jahr haben sich damit 12-mal 200 Franken an Steuerschulden aufgetürmt, macht 2400 Franken. 

Was tut die Politik?

Sie versucht schon seit Jahren, das Problem zu lösen. Bisher sind aber alle Vorstösse gescheitert – aus unterschiedlichen Gründen. Doch nun kommt eine Lösung in Sicht. Der Bundesrat hat im Herbst 2023 gesagt, dass er konkrete Vorschläge für die Umsetzung macht, wenn ihm das Parlament einen klaren politischen Auftrag erteilt. Das hat der Ständerat nun getan. 

Als Nächstes kommt der Vorstoss in den Nationalrat, der voraussichtlich in der Sommersession 2024 darüber beraten wird. Wenn die Parteien bei dem bleiben, was sie dem Beobachter im Gerechtigkeits-Check gesagt haben, sollte auch der Nationalrat der Vorlage zustimmen. 

Wie wird das Existenzminimum genau berechnet?

Das Betreibungsamt kalkuliert es individuell. Dabei stützt es sich auf die Richtlinie der Konferenz der Betreibungs- und Konkursbeamten. Folgende Positionen gehören dazu: 

  • Grundbetrag von 1200 Franken für Alleinstehende und 1700 für Paare – für Essen und Kleider
  • Miete inklusive Nebenkosten und Heizkosten 
  • obligatorische Versicherungen wie obligatorische Krankenkasse
  • Berufsauslagen, auswärtige Verpflegung und Fahrkosten zum Arbeitsplatz
  • Unterstützungs- und Unterhaltsbeiträge
  • Schulkosten der Kinder
  • Auslagen für Ärztin, Zahnarzt und Medikamente

Weshalb zählen die Steuern bisher nicht dazu?

Im Gesetz steht dazu nichts Genaues. Aber das Bundesgericht hat schon mehrfach entschieden, dass die Steuern nicht zum Existenzminimum zählen. Der Grund: Man kann auch leben, wenn man keine Steuern bezahlt, es ist keine lebensnotwendige Ausgabe. Darum steht das so in den Richtlinien der Betreibungsämter. 

Was sind die Überlegungen dahinter?

Erstens – wie erwähnt – dass man nicht verhungert, wenn man keine Steuern zahlt. Die Existenz ist nicht gefährdet.

Zweitens wollte man Steuerämtern nicht den Vorrang geben vor anderen Gläubigern. Denn wenn man Schulden beim Steueramt zum Existenzminimum zähle, wäre das Geld exklusiv für den Staat reserviert.

Drittens kann man nicht gut überwachen, ob die verschuldete Person das gesperrte Geld tatsächlich dem Steueramt überweist – und nicht für etwas anderes ausgibt. Bei den Krankenkassenprämien zum Beispiel muss man dem Steueramt jeden Monat die bezahlte Rechnung zeigen. Doch Steuern zahlt man meist nicht monatlich, sondern einmal im Jahr. Für dieses Problem müsste der Bundesrat in seinem Umsetzungsvorschlag eine Lösung aufzeigen.

Was ist so schlimm, wenn sich Steuerschulden auftürmen?

Für die verschuldeten Personen verlängert sich so eine Lage, die schon per se eine grosse Belastung ist. Denn wenn der Lohn gepfändet wird, muss man sich stark einschränken – alles, was ein bisschen Spass macht, wird gestrichen, etwa Ferien, Sport oder Ausflüge. Wenn dann endlich die Schulden bezahlt sind, geht es gleich weiter. Dann fordert das Steueramt die laufenden Steuern, die nächste Lohnpfändung beginnt, der Geldhahn ist wieder abgedreht. So geht es Jahr für Jahr.

Viele Betroffene kommen gar nicht aus diesem Strudel raus, werden krank und geben auf. Auch für den Staat sind die Konsequenzen negativ. Ihm fehlen nicht nur die Steuereinnahmen, sondern er muss Betroffene im schlimmsten Fall finanziell unterstützen, wenn sie krank werden und nicht mehr arbeiten können.