Silvia Gautschin, 65, ist eine einigermassen wohlhabende Frau. Zumindest auf dem Papier. Vor vier Jahren hat sie von ihrem verstorbenen Sohn fast 150’000 Franken geerbt. Doch von dem Geld hat sie noch keinen Rappen gesehen. Ihr Ex-Mann und ihre Tochter fechten ihren Anspruch an, das Verfahren ist hängig.

Für die Tessinerin hat das gravierende Folgen: Sie gilt vor dem Gesetz als vermögend. Seit dem Tod ihres Sohnes bekommt sie deshalb keine Ergänzungsleistungen mehr. Solange sie das Erbe nicht antreten kann, ist sie aber auf das Geld angewiesen, um ihren Alltag bestreiten zu können.

Bis alles Ersparte aufgebraucht ist

In solchen Fällen bleibt Betroffenen nur die Sozialhilfe. Deren Ansätze sind aber deutlich tiefer als bei den Ergänzungsleistungen. Und anders als beim Bezug von EL, bei dem es für Alleinstehende einen Freibetrag von 30’000 Franken gibt, müssen bei der Sozialhilfe zuerst fast alle Ersparnisse aufgebraucht werden.

So geht es auch Silvia Gautschin. Sie hat sich ihre Pensionskasse auszahlen lassen, 40’000 Franken. Davon lebt sie zurzeit, bis alles aufgebraucht ist und sie beim Sozialamt Hilfe beantragen kann. «Die ganze Situation empfinde ich als sehr belastend», sagt die frühere Hausfrau und Altenpflegerin.

Vorschlag für Vorschuss

SP-Nationalrätin Gabriela Suter spricht von einem Missstand, der behoben werden muss. Die Aargauer Parlamentarierin ist durch einen ähnlichen Fall auf das Thema aufmerksam geworden. Auch das SRF-Magazin «Espresso» hat schon über Schicksale wie das von Silvia Gautschin berichtet.

Im vergangenen Dezember reichte Gabriela Suter deshalb einen Vorstoss im Nationalrat ein: Sie schlägt vor, dass in solchen Fällen die Ergänzungsleistungen so lange weitergezahlt werden, bis die Betroffenen ihr Erbe tatsächlich antreten – als Vorschuss. Wenn das Geld eintrifft, könnten die Erben den Vorschuss dann zurückzahlen.

Für den Bundesrat zu aufwendig

Der Bundesrat will an den Regeln aber nichts ändern, wie er nun mitteilt. Er räumt zwar ein, dass «in gewissen Einzelfällen schwierige Situationen entstehen können, insbesondere, wenn die Liquidation der Erbschaft lange dauert». Um Ergänzungsleistungen auf Vorschuss zu gewähren, sei aber eine Gesetzesänderung notwendig. Davor warnt er. Erstens würde der Grundsatz verletzt, dass Ergänzungsleistungen nicht zurückgezahlt werden müssen. Zweitens könnte die Rückforderung schwierige Verfahren und grossen Aufwand nach sich ziehen, befürchtet der Bundesrat.

Wie Nationalrätin Suter ihr Vorhaben weiterverfolgt, ist noch offen. Als Erstes will sie andere Fraktionen überzeugen, eine Gesetzesänderung zumindest prüfen zu lassen. Die Antwort des Bundesrates kann sie nicht nachvollziehen: «Zum einen spricht er von Einzelfällen, zum anderen von einem zu grossen Aufwand.»

Andere Sozialversicherungen gewähren Vorschüsse

Auch Irene Rohrbach, Sozialversicherungsexpertin beim Beobachter-Beratungszentrum, stellt den bundesrätlichen Entscheid in Frage. Eine Gesetzesänderung sei gar nicht nötig, eine Anpassung der Verordnung würde genügen, sagt sie. «Es liegt in den Händen des Bundesrats, etwas zu unternehmen.» Damit beurteilt sie die Rechtslage gleich wie der Sozialversicherungsexperte Michael Meier von der Universität Luzern in einem früheren SRF-Beitrag.

Zur Sache selbst sagt Beobachter-Expertin Rohrbach: «Die Ergänzungsleistungen sollen AHV-Rentnern die Finanzierung eines angemessenen Lebensstandards ermöglichen.» Der Bundesrat höhle dieses Prinzip aus, indem er Vermögen anrechnet, auf das die Versicherten keinen Zugriff haben. «Diese Praxis zeugt von einer weltfremden Denkweise, zumal es gang und gäbe ist, dass Sozialversicherungen sogenannte Vorleistungen erbringen.» Etwa die IV mit der Haftpflichtversicherung.

Für Silvia Gautschin bleibt nur zu hoffen, dass sie ihr Erbe bald antreten kann – und nicht mehr nur auf dem Papier genügend Geld hat.

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