Corinne Dobler sieht nicht aus wie eine typische Pfarrerin. Piercing, Turnschuhe und eine Frisur, die man nicht wirklich als brav bezeichnen kann. Seit zehn Jahren amtet sie in der reformierten Kirche Bremgarten-Mutschellen als Pfarrerin, seit zweieinhalb auch als Gastroseelsorgerin, angestellt von der Landeskirche Aarau. Eine Seelsorgerin für einen Berufsstand, das ist einmalig in der Schweiz. Doblers Vater war Koch in einem Altersheim, die Mutter half als Kellnerin aus. Die Pfarrerin kennt die Sorgen und Nöte im Gastgewerbe.

An einem dieser Nachmittage im Herbst, wo es schneller dunkel wird, als man das Licht anzünden kann, begleiten wir Corinne Dobler auf einer Beizentour durch die Altstadt von Bremgarten.

Beobachter: Gehen Sie zu den Menschen, weil sie nicht zu Ihnen kommen?
Corinne Dobler: Ja. Die Gastroseelsorge wurde vor 35 Jahren gegründet, weil die meisten Restaurants sonntags geöffnet haben und die Wirte den Gottesdienst nicht besuchen können.

Beobachter: Trotzdem: Drängen Sie sich den Leuten nicht etwas auf?
Dobler: Bei den Wirten kommt ständig ein Vertreter vorbei. Der eine will eine neue Kaffeemaschine verkaufen, der andere Wein. Beim ersten Kontakt denken sie daher oft: Schon wieder eine, die etwas von mir will. Ich sage ihnen dann, ich wolle ihnen nichts aufschwatzen. Sondern einfach fragen, wie es ihnen geht.

Beobachter: Kostet es Sie Überwindung, auf die Menschen zuzugehen?
Dobler: Es ist anstrengender, zu den Menschen zu gehen, als einen Gottesdienst zu halten. Aber es ist auch wertvoller.

Zuerst schauen wir bei Thomas Schaufelbühl vorbei, der den «Stadtkeller» führt. Das Geschäft läuft eher harzig, wie bei vielen Kollegen. «Wer hat heute noch Zeit für ein Mittagessen im Restaurant?», fragt Schaufelbühl. «Man verpflegt sich am Take-away-Stand.»

Dobler hört zu, zeigt Verständnis. Oft reicht das schon, ist genau das wichtig. «Die Menschen reden anders mit mir als mit einem Bekannten, der vielleicht zu schnell mit einem Ratschlag zur Stelle ist.»

Verständnisvoll hörte Dobler auch zu, als Schaufelbühl über die Weihnachtsdekoration in seiner Gaststube in Rage geriet. Er lobte zwar die Angestellte, die den Schmuck kunstvoll arrangiert hatte. Doch er bremste ihren Überschwang, das Restaurant gleich von Anfang an mit der vollen Ladung Weihnachtsdeko zu überfluten. «Du kannst doch nicht gleich mit dem Orgasmus beginnen!», sagte er und liess sie die Krippe wieder versorgen. «Da muss eine Steigerung sein. Immer etwas mehr und am Schluss das Grande Finale mit allem.»

Dobler gefiel die Lebensweisheit des Wirts so sehr, dass sie in ihrem Blog lustvoll eins obendrauf setzte: Nur wenn Weihnachten ein angemessenes Vorspiel habe, gerate das Fest «orgiastisch» und nicht zum «Coitus interruptus», weil man an Heiligabend einfach nicht mehr könne. Für so viel Unverblümtheit gabs dann einige entrüstete Leserbriefe. Doch das nimmt Dobler auf die leichte Schulter. «Ich war schon immer so», sagt sie. «Ich gehe vom Leben aus, haue niemandem die Bibel auf den Kopf.»

Beobachter: Die Wirte sind nicht die Einzigen, die in der Kirche durch Abwesenheit glänzen. Auch wer am Sonntag frei hat, kommt nur selten. Woran liegt das?
Dobler: Man nimmt sich nicht die Zeit, um nach innen zu schauen. Aber das kann ich gut verstehen. Mich zieht es am Sonntagmorgen auch nicht automatisch in die Kirche.

Beobachter: Sie gehen nur, weil Sie müssen?
Dobler: Nein, wenn ich erst einmal dort bin, finde ich es schon sehr lässig. Aber das geht einem ja mit vielen Anlässen so. Man ist so ausgelastet mit Familie, Haushalt, Job und ist oft einfach froh, wenn nicht noch ein weiterer Termin dazukommt.

Auf ihrer heutigen Beizentour zeigen sich die Wirte gut gelaunt, was nicht weiter erstaunlich ist, wenn die Pfarrerin mit einer Journalistin und einer Fotografin unterwegs ist. Welcher Wirt möchte schon als gramgebeugt oder gar frömmlerisch geoutet werden?

In vertrauteren Momenten kommt es aber auch zu tiefschürfenden Gesprächen. Einmal habe sie eine Wirtin begleitet, erzählt Dobler, die Krebs hatte und bis zuletzt arbeiten wollte. «Sie konnte kaum noch aufstehen und hat dennoch die Gaststube geputzt.» Sie hätten diese schwierige Situation zusammen ausgehalten, auch zusammen gebetet.

Wirte kümmern sich um Gäste; Corinne Dobler um den Wirt.

Quelle: Tanja Demarmels

Im Restaurant Drei Könige plaudert Corinne Dobler mit den Stammgästen.

Quelle: Tanja Demarmels


Eine andere Wirtin gestand ihr einmal, sie glaube nicht an Gott und könne mit der Kirche nichts anfangen. «Mit dir ist nichts falsch», entlastete Dobler die Frau, von der sie wusste, dass sie sehr naturverbunden war. «Man kann den Frieden auch anderswo finden, etwa in der Natur.» Man spürt, diese Pfarrerin achtet und liebt die Menschen. Gerade deswegen will sie niemanden überzeugen.

Beobachter: Die Adventszeit ist oft die stressigste Zeit im ganzen Jahr. Warum nehmen sich die Menschen trotzdem Zeit, in die Kirche zu gehen?
Dobler: Wenn es dunkel wird und man Lichter anzündet, gibt es auf einmal Raum und Zeit für eine gewisse innere Sehnsucht. Vielleicht merkt man nach dem Festessen und dem Auspacken der Geschenke, dass immer noch etwas fehlt. Dann kommen die Leute in die Kirche. Sie suchen das Magische. Andere kommen, weil Weihnachten ganz schlimm für sie ist und sie von zu Hause fliehen müssen.

Im Restaurant Drei Könige sitzt unterdessen ein fideler Stammtisch zusammen. Dobler setzt sich dazu, bestellt ein Bier. Sie wird freundlich begrüsst – nicht so wie in der Bar um die Ecke, wo sie bei ihrem Antrittsbesuch einst für eine Dealerin gehalten und beinahe rausgeschmissen wurde. Sie überreicht der Wirtin Marianna Tancredi-Recrosio eine Kerze mit Segensspruch. Ein bisschen fromm muss dann doch sein. Früher hat sie Zündholzschachteln verteilt, auf denen ihre Telefonnummer aufgedruckt war – bis ein paar Gäste aus Jux bei Beizenschluss anriefen.

Natürlich wäre Corinne Dobler auch für die Gäste da. Aber in erster Linie geht es ihr darum, den Beizern den Rücken zu stärken, die ihrerseits nicht selten als Seelsorger walten. «Sie geben ihren Stammgästen eine Heimat, Geborgenheit.» Wenn einer nicht mehr kommt, fragen sie nach, was los sei. Weil ein Wirt sich gekümmert hatte, fand man in Dottikon einen alten Mann, der schon seit einigen Tagen tot in seiner Wohnung gelegen hatte. Der Einzige, der nach ihm gefragt hatte, war der Wirt.