Heute ist Monika Roth die Bienenkönigin. Die 67-Jährige orchestriert die rund 30 Pharmaassistentinnen und Parfümeriemitarbeiterinnen, die vor und hinter dem Tresen der Hauptbahnhof-Apotheke stehen. Täglich von sieben Uhr morgens bis Mitternacht.

Sie alle tragen weisse Gesundheitsschuhe, nur die Füsse von Apothekerin Roth stecken in schicken Lederstiefeletten, die Lesebrille baumelt an roter Kette über weissem Kittel. Seit 15 Jahren arbeitet Monika Roth in der Bahnhofapotheke. Eigentlich ist sie seit zwei Jahren pensioniert. Da sie ihren Job aber so liebt, ist sie so oft wie möglich hier. «Ich gehe das Leben und die Patienten gern ganzheitlich an», sagt die Apothekerin.

In der Bahnhofapotheke herrschen die Frauen. 113 von 120 Angestellten sind weiblich. Chefin Ingrid Barrage, eine gebürtige Münchnerin, hat die Apotheke 1995 gegründet, die erste in einem Schweizer Bahnhof. Heute die grösste der Schweiz. Es ist ein geschäftiges Treiben, ein Chaos, aber ein wohlgeordnetes. Wie im Bienenstock. Ein Glück, ist der Raum denkmalgeschützt, sonst wäre längst die Decke herabgesetzt worden – und in der 280 Quadratmeter grossen Verkaufshalle wäre es noch lauter. Der bis zu acht Meter hohe Raum schluckt den Lärm.

Eine Etage höher sind Büros, Labor und Lager mit 20'000 verschiedenen Artikeln untergebracht. In Spitzenzeiten gehen pro Stunde bis zu 300 Kundinnen und Kunden in der Apotheke ein und aus. Auch bekannte Gesichter aus Politik und Showbiz sind darunter. Ein Gewusel unterschiedlichster Nationalitäten und Jahrgänge. 20 Sprachen sprechen die Angestellten, von Amharisch (Äthiopien) über Mandarin (China) bis Tamil (Sri Lanka).

Die Pharmabetriebsassistentin Erika Leonardi zum Beispiel spricht neben Deutsch fliessend Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Englisch und Französisch. Und neuerdings paukt sie Russisch. «Mir gefällt das Lernen», erklärt die 34-Jährige lapidar, lacht laut und ansteckend. Sie wird in die kleine, geschützte Beratungszone gerufen – ein junger Mann hat eine Schnittwunde auf dem Nasenflügel und muss versorgt werden. Leonardi säubert die «Schnattere», klebt sie mit Steri-Strips zu, damit keine grosse Narbe zurückbleibt. Sie fragt nach dem Unfallhergang und warnt den Patienten vor einer möglichen Gehirnerschütterung. Ihr Tipp für die nächsten Stunden: Ruhe, Ruhe, Ruhe.

Pro Minute Behandlung verlangt die Apotheke einen Franken – das ist nichts im Vergleich zum Besuch bei einem Arzt, der in diesem Fall genau dasselbe gemacht hätte. Leonardi eilt weiter zum nächsten Patienten. Als Ausgleich zum stressigen Job geht sie abends oft kickboxen. «Dampf ablassen» nennt sie es.

Pensionärin Monika Roth arbeitet freiwillig und so oft wie möglich.

Quelle: Daniel Auf der Mauer
Der Renner im Frühling: Heuschnupfen-Medikamente

Monika Roth wischt sich die grauen Haare aus der Stirn und fragt: «Wieso sind manche Leute gesund und andere nicht? Welche psychischen Faktoren beeinflussen unsere Gesundheit und wie?» Sie verkauft gerade die zirka zwanzigste Schmerzmittelpackung an diesem Tag. Die fast schon philosophischen Fragen zur Gesundheit stellt sich die dreifache Mutter und zweifache Grossmutter oft selber, aber ab und an auch Kunden. Manchmal komme dann Berührendes heraus: «Manche Patienten weinen, wenn sie realisieren, dass hinter scheinbar simplen Beschwerden etwas viel Tiefergreifendes liegt. Das ist herzerweichend.» Für sich selbst hat sie eine Antwort gefunden: «Im Gleichgewicht leben, das ist es.» Sie wirft einen Blick auf das Treiben ihrer Arbeitsbienen – alles gut.

Die Schmerzmittel Paracetamol und Ibuprofen werden am häufigsten verkauft, rezeptfrei, rund 10'000 Packungen monatlich. Gefolgt von Grippe- und Schnupfenmitteln und Aufbaupräparaten. Ein Renner sind im Moment Heuschnupfen-Medikamente. «Der Frühling ist umsatzstark – wegen all der Allergiker», sagt Roth, die stoisch freundlich Rezepte kontrolliert und Kundinnen und Kunden bedient. Andere Spitzen gibt es während der Street Parade mit den Drogen-, Alkohol- und Hitzegeschädigten, im Winter mit der Grippewelle, im Sommer mit der Zusammenstellung der Reiseapotheken.

Rund 60 Prozent des geschätzten Jahresumsatzes von 20 Millionen Franken macht die Apotheke aber mit rezeptpflichtigen Mitteln. Ein Krebsmedikament kostet schnell mehrere zehntausend Franken. Am häufigsten gehen Rheumamittel und Antibiotika über den Tresen, aber auch sehr viele Psychopharmaka.

Direkt neben der Apotheke ist die Notfallpraxis Permanence. «Wir arbeiten eng und gut zusammen», sagt Roth. Die räumliche Nähe habe sich bewährt. So sei kürzlich eine ältere Kundin zusammengebrochen, eine Apothekerin habe sie wiederbelebt, und die herbeigeeilte Ärztin von nebenan konnte sofort übernehmen.

Lästiger Liebeskummer oder fehlendes Babyglück: Marlies Lörincze (links) kennt einige Mittelchen dagegen.

Quelle: Daniel Auf der Mauer


Plötzlich ertönt das Lied «Lonely» des deutschen Rappers Nana. Für Eingeweihte heisst das: «Wir brauchen mehr Personal vorn am Tresen!» Lieder als Warnsignale seien schöner als ein Klingeln, meint Roth. Jede der fünf Abteilungen – Pharma, Expresskasse, Parfümerie, Komplementärmedizin und Dermokosmetik – hat ihre eigene Melodie.

«I’m lonely, lonely, lonely. God help me!» Apothekerin Franziska Storchenegger eilt nach vorn. Die grosse Leidenschaft der 37-jährigen Thurgauerin mit dem strengen Bürzi ist das Herstellen von Salben, Pasten und Cremen. Deshalb leitet sie auch das Labor, wo hauptsächlich Mittel gegen Hauterkrankungen entstehen.

Die Pille danach – meistens sonntags

Storchenegger redet gern und viel. Hört aber genauso gut zu. Bei ihrem aktuellen Patienten ist das auch notwendig. Der Tibeter spricht nur gebrochen Deutsch und krempelt auch gleich seine Hose hoch. Er zeigt auf ein grosses, braunes Geschwür am Bein. Storchenegger findet heraus, dass er in einem Restaurant als Tellerwäscher arbeitet und immer wieder solche Ausschläge hat, auch an den Armen. Sie schaut sich das Bein genauer an. Ein Pilz, meint sie und empfiehlt eine Waschlotion und ein Antimykotikum, eine Antipilzsalbe.

Wer in einer Apotheke arbeitet, muss hart im Nehmen sein, Ekel ertragen, darüber hinauswachsen können und ziemlich abgeklärt sein. Eitrige Ausschläge, Pilze, oft auch im Intimbereich, Hämorrhoidalleiden oder Blasenentzündungen gehören zum Alltag. Die Pille danach ebenfalls, besonders sonntags. Dann wird mancher Frau klar, was sie an der grossen Party am Vortag alles gemacht hat. Die Pille danach bekommt aber nur, wer das 15-minütige Beratungsgespräch absolviert. Dabei geht es auch um «normale» Empfängnisverhütung.

Storchenegger erzählt von einer Frau, die in der Beratung sagte, sie nehme die Pille, eine Packung reiche jeweils für drei Monate, jetzt sei sie eben leider leer gewesen. Sie hat die Pille offensichtlich nur nach dem Geschlechtsverkehr genommen und Glück gehabt, dass sie nicht längst schwanger geworden ist. «Manchmal braucht es viel Aufklärung. Voraussetzen darf man nichts.»

 

Die Bahnhofapotheke ist Medikamentenlager und Arztpraxis in einem. Zudem gibt es ein hauseigenes Labor.

Quelle: Daniel Auf der Mauer
Beliebtes Aufputschmittel: Hustensaft

Abends um sieben herrscht Hochbetrieb. Zu Stosszeiten sind sogenannte Floormanager unterwegs, die gezielt Kunden ansprechen, beraten oder an den richtigen Ort führen. Pharmaassistent Michael Klasic, 22, fühlt sich in dieser Rolle sichtlich wohl. Ein grünes Kreuz am blauen Hemd signalisiert, dass er zum Team gehört.

Beflissen führt er zwei Halbstarke in schwarzen Lederjacken zu Monika Roth. «Ich habe Fieber und Halsweh. Seit zwei Tagen. Geben Sie mir Pillen, die schnell helfen.» Obwohl sie den Erkrankten aufklärt, dass es sich um eine Angina handeln könne, besteht er auf einem starken Schnupfenmittel und Schmerztabletten. Hustensaft mit Codein hätte Roth ihm aber nicht gegeben. Jugendliche mischten ihn mit Alkohol und putschten sich so auf. «Wir Apotheker können und müssen auch Nein sagen, wenn wir einen Verdacht auf Missbrauch haben.»

Floormanager Michael Klasic ist seit drei Jahren hier. Als einer der sieben Männer. «Ich arbeite gern mit Frauen, kein Problem», sagt er. Seine Kollegen würden ihn manchmal um all seine Mitarbeiterinnen beneiden. Er schüttelt den Pony aus der Stirn und wendet sich dem nächsten Kunden zu.

Langsam wird es etwas ruhiger. Am späteren Abend kommen gern die Stammkunden, die möglichst wenig Publikum wünschen. Junkies holen saubere Spritzen ab, Alkoholiker ihre Dosis Antabus zur Entwöhnung vom täglichen Wein und Schnaps.

Marlies Lörincze, Leiterin des Komplementärbereichs, beendet ihre Schicht. Die 52-jährige Bernerin mit dem weissen Pagenkopf hat ebenfalls viele Stammkunden, zum Beispiel Frauen, die dank ihrer umfassenden Beratung endlich schwanger wurden und ihr dann die Babys zeigen. Oder Klienten, die ihr grosses Wissen rund um pflanzliche Präparate schätzen. Wer weiss heute denn noch, dass Passionsblumenkraut auch gegen Liebeskummer hilft?

Kurz nach Mitternacht schliesst Königin Roth den Bienenstock. Ihr Mann holt sie ab, wie immer, seit sie hier vor 15 Jahren angefangen hat.