Es kratzt und zischt nicht mehr, wenn Schweizer Eltern ihre Kinder auf dem Spielplatz rufen. Keine Franziskas mehr und keine Patricks, keine Christians und keine Stefanies. Die harten Konsonanten und Zischlaute sind verschwunden, ade P, T, K, St, Ch! Heute ist alles sonor, weich und vokalreich. Noah, Leon, Laura, Lena. Alles fliesst. Die nuller Jahre haben den Vornamen die Ecken und Kanten abgeschliffen. Und die Länge gestutzt. Mia, Lea, Lia, Tim und Ben – drei Buchstaben reichen, um unter die ersten 20 der Vornamens-Hitparade zu gelangen. L ist der Buchstabe der Stunde, neun männliche und weibliche Vornamen der Top Ten von 2017 fangen mit L an.
 

«Vornamen sind in den letzten Jahrzehnten immer kindertauglicher geworden.»

Damaris Nübling, Namensforscherin


Mit den Namen ist es wie mit den Kleidern: Erst werden sie von Avantgardisten ausgewählt, werden dann Trend, schliesslich Mainstream, ehe man sich sattgehört hat und sie aus der Mode fallen. Und Jahrzehnte später kommen sie erneut. Emma etwa, ein beliebter Vorname in den dreissiger Jahren, ist heute wieder en vogue.

«Vornamen sind in den letzten Jahrzehnten immer kindertauglicher geworden», sagt Damaris Nübling, Namensforscherin an der Universität Mainz. Die Kindheit sei ein junges Konzept und werde heute wertgeschätzt. Kinder würden nicht einfach als kleine Erwachsene angesehen.

Thomas, vor 50 Jahren noch die Nummer eins, wollte nicht so recht zu einem neugeborenen Baby passen. Brigitte, damals ebenfalls ein Top-Ten-Name, nicht zu einem einjährigen Mädchen. Und Klein Christine konnte ihren Vornamen nicht aussprechen, zu viele Silben, Konsonanten und Zischlaute.

Heute können Liam, Nina und Emma ihre Namen schon als Zweijährige sagen, sie sind lautlich nicht komplizierter als Mama, Papa und aua. Ein bis zwei einfache Silben, viele Vokale. Babysprache.

Trend zu kurzen Namen

4,1 (Mädchen) bzw. 4,8 (Knaben) Buchstaben lang sind im Schnitt die angesagtesten Vornamen

Aus so vielen Buchstaben setzen sich die zehn beliebtesten Vornamen für Neugeborene 1967 und 2017 zusammen.

Quelle: opendata.ch / Infografik: Beobachter/SEE/AK
Kevinismus

Eltern geben ihrem Kind mit dem Namen ein Stück Identität. Und eine gesellschaftliche Etikette. Denn Menschen assoziieren mit Namen Persönlichkeitsmerkmale wie Intelligenz oder Sportlichkeit, sozialen Status und Bildungsschicht Bildung «Ein Arbeiterkind gilt per se als dümmer» , Alter und Attraktivität.

Lehrer etwa sind voreingenommen, wenn ihre Schüler Kevin heissen. 1990 wurden – nach Erscheinen des Kinohits «Kevin – Allein zu Haus» – plötzlich Zehntausende Kevin genannt. Es folgte eine jahrelange Hetzkampagne gegen den Namen, weil er bald als Unterschichtsname galt. Das Wort «Alpha-Kevin» – Synonym für einen besonders dummen Jungen – lag 2015 beim Online-Voting zum Jugendwort des Jahres an der Spitze, ehe die Organisation den Begriff von der Liste strich, um die vielen Kevins nicht noch mehr zu benachteiligen. «Kevinismus» wird das Phänomen genannt.

Kevin sei kein Name, sondern eine Diagnose, sagte eine Lehrperson, die 2009 an einer deutschen Studie zum Thema teilnahm. 80 Prozent der befragten Primarlehrer gaben darin an, ein auffälliges oder freches Verhalten zu erwarten, wenn ein Kind Kevin, Marvin oder Angelina heisst. Marie und Jakob hingegen gelten als brave Kinder, weil es typische Oberschichtsnamen sind.
 

«Heute werden in der Unterschicht eher schillernde Modenamen vergeben, Namen von Stars und aus dem Fernsehen.»

Simone Berchtold, Linguistin an der Universität Zürich


«Der Vorname enthält viele Informationen über den Träger», sagt Simone Berchtold, Linguistin an der Universität Zürich. Man könne auf Geschlecht, Alter, Nationalität und Religion schliessen, ebenso auf die soziale Schicht. Zwar nicht mehr so stark wie früher, aber es gibt noch immer Unterschiede, wie Studien gezeigt haben. «Früher hiessen Dienstboten Hans und reiche Söhne Friedrich, heute werden in der Unterschicht eher schillernde Modenamen vergeben, Namen von Stars und aus dem Fernsehen.»

Wenig gebildete Eltern wählen häufiger aussergewöhnliche Schreibweisen und Namenskreationen wie Chantalle, Sharlen oder Cheyenne. Bei den Knaben der unteren Schichten häufen sich zudem amerikanische Namen wie Justin und Jason, bei den Mädchen französische wie Michelle und Céline. «Prollnamen» werden sie im Internet genannt. Akademiker wählen traditionellere Namen wie Johanna, Charlotte oder Paula.

Jede 100. Person heisst Maria

Häufigste Vornamen in der Schweiz

Die Top 20 der männlichen und weiblichen Vornamen (2017) in der Schweiz: Je grösser ein Name dargestellt ist, umso häufiger kommt er vor. Die 84'136 Marias machen ein Prozent der Schweizer Bevölkerung aus – die 62'460 Daniels immerhin 0,7 Prozent.

Quelle: BfS – Infografik: Beobachter/SEE/AK
Der unattraktive Mike

Mit Namen assoziieren wir auch Charaktereigenschaften. Auf jeder Internetseite mit Babynamen findet sich eine Community-Umfrage darüber, wie erfolgreich, lustig, selbstbewusst oder romantisch ein Name klingt – und sogar welcher Beruf dazu passt, ob Leonie also eher Putzfrau oder Ärztin wird. Es sind subjektive Urteile einiger hundert Seitenbesucher, die zu einem Namen-Bashing führen können.

Seriöse Erhebungen zu solchen Bewertungen gibt es kaum. Eine Untersuchung der Technischen Universität Chemnitz hat allerdings gezeigt: Je trendiger ein Name ist, je jünger also der Träger geschätzt wird, umso attraktiver und intelligenter klingt er. Aus der Mode gekommene Namen wie Manuela, Simone, Mario und Mike wirken deshalb unattraktiv und unintelligent. Allerdings gibt es auch bei den Trendnamen Unterschiede. Lara ist unter den Top 3 der attraktivsten Namensträgerinnen, wird aber als nicht besonders intelligent betrachtet. Bei Johanna ist es genau umgekehrt. (Bildergalerie: «Sag mir, wie du heisst, und ich sag dir, wer du bist»)

Warum wir mit Namen Charaktereigenschaften verbinden, ist nicht wirklich erforscht. «Ein Name ist wie eine leere Worthülse, er bedeutet per se nichts. Deshalb können wir ihn je nach Erfahrungen mit Bildern und Assoziationen füllen. So entstehen Prototypen», sagt Linguistin Berchtold. Stark verbreitete Namen wie zum Beispiel Daniel oder Martin seien dafür weniger anfällig. Man begegnet so vielen Trägern, dass sich kein Klischee durchsetzen kann.
 

«Seit der Jahrtausendwende gab es eine dramatische Veränderung bei den männlichen Vornamen. Sie sind femininer geworden.» 

Damaris Nübling, Namensforscherin


Früher wurden Kinder nach der Grossmutter oder dem Vater benannt, Tradition und Kontinuität waren wichtiger als Individualität. Heute ist es der Wohlklang, der den Eltern am wichtigsten ist.

Doch warum klingen Namen schön? «Sonor muss er sein», sagt die Namensforscherin Damaris Nübling. «Bei Vokalen und stimmhaften Konsonanten wie L, M, N, R und J vibrieren die Stimmbänder», sagt sie. «Das empfinden wir als klangvoll.» Ebenso die Hiate – Doppelvokale wie in Liam, Leon, Mia. Die Vornamen bilden damit einen starken Kontrast zur deutschen Sprache mit ihren vielen Konsonanten und kaum einem Wort, das mit einem Vokal aufhört.

Vor 50 Jahren wäre ein italienischer Vorname undenkbar gewesen

Migranten bleiben ihren Wurzeln treu, sie wählen auch in der zweiten und dritten Generation Namen ihres Herkunftslands, sagt Nübling. Noch befindet sich kein türkischer, albanischer oder serbischer Vorname unter den 100 beliebtesten Babynamen. «Das Sozialprestige dieser Migrantengruppe ist tief – deshalb werden ihre Namen von Schweizern gemieden.» Doch das kann sich ändern: Vor 50 Jahren sei es noch undenkbar gewesen, einem Schweizer Kind einen italienischen Vornamen zu geben, sagt Berchtold. Es waren die Namen der Gastarbeiter, ihr Sozialstatus war gering. Heute ist Italianità salonfähig, und Giulia, Matteo und Nino sind ganz oben angekommen. Möglich, dass in 50 Jahren auch Ali, Arben und Ayşe von Schweizern übernommen werden.

Bis ins Jahr 2000 war es hierzulande auch fast undenkbar, dass Jungennamen auf -a enden. So sehr, dass der italienische Männername Andrea ganz selbstverständlich zu einem der beliebtesten Mädchennamen im deutschsprachigen Raum wurde. Als Luca aufkam, ging die Linguistin Susanne Oelkers deshalb davon aus, dass es ein Mädchenname würde. Falsch: Er ist heute der dritthäufigste Bubenname. Ähnlich Noah. «Seit der Jahrtausendwende gab es eine dramatische Veränderung bei den männlichen Vornamen», sagt Nübling. Sie sind femininer geworden. «Namen spiegeln gesellschaftliche Entwicklungen.» Männer dürfen heute weiblicher sein, sanfter, weicher, also dürfen es auch ihre Namen. Mädchennamen wurden hingegen nicht maskuliner. Unter den ersten 20 enden fast alle auf -a.

Reto und Regula sind von gestern

Die Schweiz ist namenstechnisch keine Insel mehr. Typische Namen wie Reto, Urs, Regula oder Jürg werden übergangen. Einzig rätoromanische Eltern haben mit Curdin, Andrin und Arina noch lokaltypische Namen in den Top Ten. Emma, Sofia, Noah und Liam tummeln sich von Australien und Amerika bis nach Finnland auf den Spitzenplätzen. «Es ist das Phänomen der unsichtbaren Hand», sagt Linguistin Berchtold. «Wir leben mit dem gleichen Zeitgeist, sind von ähnlichen Dingen umgeben – deshalb finden wir plötzlich zur selben Zeit dieselben Namen schön.»

Der Vorname ist das Erste, was wir bekommen, und wir legen ihn meist ein Leben lang nicht ab. Anders in Schweden: Dort kann man seinen Vor- und Nachnamen jederzeit und mehrfach im Leben ändern, 98 Prozent der Anträge werden bewilligt. Statt des Namens hat jeder schwedische Einwohner eine nicht veränderbare Personennummer. «Es sind vor allem Migranten, die ihre Namen ändern wollen, weil sie bei der Wohnungs- und Arbeitssuche benachteiligt werden», sagt Damaris Nübling. Schlagzeilen wie «Mörder Yusuf M.» trügen zur Namensdiskriminierung bei.

Zwar wurde auch in der Schweiz das Namensrecht 2013 gelockert. Je nach Kanton und Zivilstandsbeamten ist es aber nach wie vor schwierig, «achtenswerte Gründe» für einen Wechsel vorzubringen. «Gefällt mir nicht» oder «klingt zu ausländisch» reichen nicht, sagt Berchtold. Und Wörter aus dem normalen Sprachgebrauch sind verboten.

Mädchen, die «Blütenblatt Regenbogen» heissen wie die Tochter von Fernsehkoch Jamie Oliver (Petal Blossom Rainbow) oder «Diva Dünner Muffin» wie die Tochter von Frank Zappa (Diva Thin Muffin), wird es auch in nächster Zukunft bei uns nicht geben.

Top 10: So heissen die Babys

Beliebteste Vornamen 2017

Die zehn beliebtesten Vornamen von Neugeborenen in der Deutschschweiz 2017 und deren sprachliche Herkunft.

Quelle: vornamen.opendata.ch – Infografik: Beobachter/SEE/AK

Wir alle diskriminieren, ohne es zu wollen

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Dani Benz, Ressortleiter
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