Als Domenico Silano am 3. August 2002 zivile Kleidung anzog, seine persönlichen Gegenstände in Empfang nahm und nach drei Jahren Haft die Strafanstalt Pöschwies verliess, da begann für ihn die grösste Herausforderung überhaupt. Das Leben in Freiheit, mit dem Stempel des verurteilten Posträubers auf der Stirn. «Ich war verdammt nervös. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen.»

14 Jahre später begegnet man einem Mann mit verhaltenem Lebenshunger. Zürich, wieder ist es August, die Sonne scheint auf den Prime Tower bei der Hardbrücke. Anzüge, Aktentaschen, Arbeitswelt. Auch Silano ist gut gekleidet; Wert auf sein Äusseres hat er schon immer gelegt. Trotzdem passt der arbeitslose IV-Bezüger nicht in diese Welt. Er kommt nicht los von seinem alten Leben. Gerade war er wieder im Gefängnis. Vorbereitungshandlungen zu einem Raub, 28 Monate, teilbedingt. Nach acht Monaten war er frei.

«Wären es nur 100'000 Franken gewesen, wären meine Sorgen kaum so gross geworden, wie sie es heute noch sind.»

Domenico Silano, verurteilter Posträuber

Einmal mehr erzählt er nun von sich. Er muss es immer wieder tun, und wie so oft beginnt er mit dem 1. September 1997, als sein gerade mal 24 Jahre altes Leben eine drastische Wendung nahm. «Mimmo, kannst du den Fiat fahren?» So fragen sie ihn, die Komplizen, als sie, ohne es zu wissen, den grössten Postraub der Schweiz planen. Silano kann. Seit sieben Jahren ist der Italiener in der Schweiz, die Lehre hat er abgebrochen, der Job als Handlanger auf dem Bau finanziert weder seine Liebe für Autos, noch tilgt er seine Schulden von rund 60'000 Franken. Das Internet steckt noch in den Kinderschuhen, die Swisscom heisst noch Telecom, und mit einem als Wagen jener Firma getarnten Auto fahren die sieben jungen Männer zur Fraumünsterpost in Zürich.

Wie viel wiegt viel Geld?

Das Timing stimmt. Einer der Komplizen arbeitet in der Postfiliale und weiss: Heute ist viel Geld da. Die Räuber schüchtern das Personal mit Plastikwaffen ein, laden fünf Geldkisten in den Transporter und hauen ab. Noch haben sie keine Ahnung, wie viel sie erbeutet haben, sie rechnen mit 200'000, vielleicht einer Million Franken. Und sie haben keine Ahnung, wie viel Geld wiegt. «Die Kisten waren so schwer, ich war überzeugt: Wir haben Münzen gestohlen! Ich hätte mich ohrfeigen können», sagt Zoran Veljkovic, der jüngste Täter, Jahre später im Schweizer Fernsehen.

Silano gönnt sich eine Marlboro – «rot, seit ich 20 bin» –, rührt im Espresso und seufzt: «Wären es nur 100'000 gewesen, wären meine Sorgen kaum so gross geworden, wie sie es heute noch sind.» In einer Garage in Zürich zählen die Räuber die Beute – oder versuchen es zumindest. Sie schaffen es nicht wirklich. 

Hastig teilen sie den Haufen auf – 53 Millionen Franken, wie später in den Zeitungen steht – und gehen auseinander. «Als ich diesen Berg Geld sah, wurde mir schlagartig bewusst: Das wird mir noch viele, viele Probleme einbringen.»

Silano setzt sich nach Miami ab. «Ans Gefängnis dachte ich damals nie. Vielleicht war ich naiv.»

Quelle: Kornel Stadler

Anders als seine Komplizen verfällt Silano nicht in Euphorie. Er wirft nicht mit Bargeld um sich, fährt nicht nach Spanien, um sich eine Villa zu kaufen, um im Kasino zu zocken. Schon Wochen nach dem Überfall wird einer nach dem andern verhaftet. 

Silanos Flucht dauert 15 Monate. Sein Geld verteilt er mit Hilfe von Freunden auf Konten im Tessin. Er setzt sich zuerst nach Venezuela ab, dann nach Miami. «Ans Gefängnis dachte ich damals nie. Vielleicht war ich naiv. Vor allem aber war ich schwer verliebt.» Die Polizei verhört Silanos Freundin, beschattet seine Familie. Er ist zu dieser Zeit die wohl meistgesuchte Person Europas.

Auf der Flucht wird er nachlässig

Der Fall wirft hohe Wellen, die Post steht schlecht da. Aus Silanos anfänglicher Vorsicht wird Übermut. Die neue Welt beeindruckt und überfordert den naiven Posträuber zugleich. Geld, Sonne, USA. Und Flucht, Verstecken, Einsamkeit. Silano telefoniert zu oft, hinterlässt überall Spuren.

Am 3. Dezember 1998 nimmt die Flucht ein Ende. Ein grösseres Kommando fasst ihn vor seiner Wohnung in Miami, zwei Zürcher Polizisten sind dabei. Silano kommt in den USA in Untersuchungshaft, wird wenig später in die Schweiz überführt. Die Staatsanwaltschaft Zürich sieht in ihm einen der Köpfe der Bande, weil er am längsten auf der Flucht war. Silano wird zu vier Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Drei Jahre später ist er wieder frei.

«Ich war missmutig und nicht optimistisch, dass es noch gut kommen könnte. Ich war anfällig für schlechte Einflüsse.»

Domenico Silano

Die Justiz entlässt einen Mann in die Gesellschaft, für den es mit 29 Jahren nicht zu spät wäre, ein neues Leben anzufangen. Doch mit dem Etikett «Posträuber, verurteilt, sucht…» ist das nicht einfach – egal auf welchem Markt. «Eigentlich hielt mich nichts mehr in der Schweiz», sagt Silano heute. «Hier lebe ich nach wie vor nur für meinen Sohn.» Der ist heute zwölf, lebt bei seiner Mutter in der Innerschweiz. Der Kontakt sei schwierig, «aber wir bemühen uns».

Silano sucht Anschluss, jobbt als Elektroinstallateur auf dem Bau. 2008 steigt er zum Vorarbeiter auf. Doch sein Arbeitgeber gerät in Verruf, hat eine viertel Million Schulden. Die Öffentlichkeit senkt den Daumen, Bilder von damals finden auf die Titelseiten. Des Posträubers schlechter Einfluss, so das Urteil vieler.

Silanos Antwort ist die bewusste Inszenierung. Er schreibt seine Erlebnisse auf beziehungsweise diktiert sie. Der Zürcher Texter Patrik Maillard wird sein Ghostwriter, und das Buch «Silano – der Jahrhundert-Postraub» ein Erfolg. Bei der Vernissage drückt er Bezirksanwalt Rolf Jäger, der ihn damals verurteilt hat, voller Stolz ein signiertes Exemplar in die Hand. Im Zürcher Theater Miller’s Studio mimt sich «Mimmo» einmal selbst, spielt den jovialen Posträuber Silano, den spitzbübischen Süditaliener.

Im Mai 2010 wird Silano mit Komplizen in einem Auto abgehört, wie sie über einen geplanten Überfall auf einen Geldkurier reden. Er wird festgenommen, mangels Beweisen wieder laufen gelassen. Später tauchen aber weitere belastende Gesprächsmitschnitte auf. «Ich war missmutig und nicht optimistisch, dass es noch gut kommen könnte. Ich war anfällig für schlechte Einflüsse.»

2014 wird er verurteilt, Artikel 260 Strafgesetzbuch, «strafbare Vorbereitungshandlungen». Noch heute zitiert Silano daraus auswendig: «Führt der Täter […] die Vorbereitungshandlung nicht zu Ende, so bleibt er straflos.» Doch der Haupttäter hatte die Sache mit dem Geldkurier abgeblasen, und nur deswegen stieg auch Silano aus. So befand das Bundesgericht.

Silano wirkt aufgebracht, fast ein wenig beleidigt, wenn er sagt: «Ich hatte keine Chance. Ich war halt der Posträuber.» 2015 trat er die Haftstrafe an, die letzten fünf Monate im offenen Vollzug in Winterthur. «Ich bin froh, dass ich dort arbeiten durfte.»

«Egal, wie es ausgeht – ich will mir einfach nicht alles gefallen lassen.»

Domenico Silano

Der verhinderte Millionär lebt heute nicht im Einklang mit sich selbst. Er kämpft noch immer, und sein Gegner ist auch nach 20 Jahren der Alltag. Mittlerweile wohnt er in Wetzikon ZH, bezieht Sozialhilfe und liegt gerade im Clinch mit der Suva. «Mir stehen noch Taggelder zu», sagt er. Das Knie macht Probleme. Nach einem Unfall vor ein paar Jahren war er zwischenzeitlich arbeitsunfähig. Doch Ende 2015 befand die Suva «leichte Belastung» für zumutbar. Silano bemühte sich um ein Zeugnis, seine Ärztin wollte ihn zu einem Spezialisten schicken. Dort kreuzte er nie auf. «Ich bekam nie einen Termin», sagt er.

Wochen später dann ein Anruf an den Journalisten, er sei jetzt beim Spezialisten gewesen. Zwei Minuten habe der Arzt gebraucht, um festzustellen, dass sein Knie kaputt sei und er nicht arbeitsfähig. Sobald er den schriftlichen Bescheid im Briefkasten habe, werde er alle Hebel gegen die Suva in Bewegung setzen. Das Ziel des Posträubers ausser Dienst: eine Umschulung. «Ich kann nicht zurück auf die Baustelle.»

Bisher fast immer Angeklagter, will Silano im Kampf für sein Geld bald als Kläger auftreten. Er hat sich Rechtsbeistand geholt, bewusst nicht beim Anwalt, der ihn noch als Posträuber vertreten hatte. «Egal, wie es ausgeht – ich will mir einfach nicht alles gefallen lassen», sagt er.

Silano, der jetzt wild gestikulierend dasitzt, der sich die Zigaretten hastiger als zuvor ansteckt, scheint zu leiden, auch unter seiner finanziellen Situation. Ist denn von seinem Anteil an der Postraubbeute, rund sieben Millionen Franken, nichts mehr übrig? Mit einem müden Lächeln winkt Silano ab. «Nein, da hatten zu viele Leute ihre Hände mit im Spiel.» Schon seine Flucht habe ihn viel Geld gekostet. Und von den Vertrauensleuten, die ihn immer wieder damit versorgten, die wussten, wo das Geld liegt, habe er nie mehr etwas gehört.

27 Millionen Franken aus der Beute sind nie aufgetaucht. Die wildesten Gerüchte ranken sich um den Verbleib. Teile der Beute seien im Libanon aufgetaucht, dazu wurde über Verbindungen zur Mafia spekuliert. 1998, als Silanos Flucht zu Ende ging, wurden in Brescia zwei Italiener tot aufgefunden, bei ihnen die Adressen von anderen Posträubern. Zoran Veljkovic, nach der Haft nach Spanien ausgewandert, tauchte Jahre später plötzlich wieder in Zürich auf. Silano zuckt mit den Schultern. «Ich habe die Kontrolle über mein Geld früh verloren.»

Was bleibt, ist ein Mann mit einer undurchsichtigen, abenteuerlichen Geschichte. Eine Geschichte, die er jetzt fortschreiben will. Silano werkelt an seinem zweiten Buch. Er lächelt, gibt sich leicht amüsiert. «Es wird ein Roman. Alle dürfen sich freuen. Denn diesmal ist alles fiktiv.»