Turo Kipf wird in einer Stunde tot sein. Es ist Mittwoch, 13. Januar, 13 Uhr. An seiner Haustür klingelt es. Heidi Vogt und eine Auszubildende, sogenannte Freitodbegleiterinnen bei der Sterbehilfeorganisation Exit, bringen das Natrium-Pentobarbital. Fünf Gramm sind tödlich für einen 80-Kilo-Menschen. Sie haben 15 Gramm dabei. Der 88-Jährige begrüsst die beiden fast freudig, sei froh, habe die Warterei endlich ein Ende.

Turo Kipf ist nicht todkrank, sondern einfach lebensmüde – wie ein Drittel jener rund 400 Menschen in der Schweiz, die sich jährlich mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation umbringen.

Die Freitodbegleiterinnen und Kipf setzen sich an den Esstisch. Sie kennen sich seit dem ersten Gespräch vor zwei Monaten. Es sind keine Verwandten da, Kipf hat keine. Die Lebenspartnerin wollte nicht zusehen beim Sterben.

Kipf unterzeichnet die Freitoderklärung und schluckt Paspertin, ein Medikament, das den Magen beruhigt. Man plaudert, um die 20 Minuten zu überbrücken, bis das Mittel wirkt. Er erzählt Anekdoten, keine fröhlichen, aus seiner Kindheit. Je näher der Tod rücke, desto weiter schaue er zurück. Dann zieht er sich um, er wolle den Tod nicht künstlich hinauszögern, schlüpft in einen Kimono und legt sich aufs Bett.

Jetzt sei die letzte Gelegenheit zur Umkehr, warnt Vogt. Das Gift einmal im Rachen, gebe es kein Zurück mehr. Sie löst das Barbiturat in Wasser auf. Kipf, mit aufrechtem Oberkörper, nimmt das Glas und trinkt. Das Gebräu schmeckt fürchterlich. Die letzten Gedanken gelten seiner Partnerin: Man soll ihr Grüsse ausrichten. Nach zwei Minuten schläft er ein, fällt in einen komatösen Zustand. Zehn Minuten später stellt Vogt seinen Tod fest. Herzstillstand. Sie macht die Pupillenprobe und tippt Nummer 117 ins Telefon, um einen «aussergewöhnlichen Todesfall» zu melden.

Von der Sterbehilfe zur Freitodhilfe

Die Schweiz hat im Vergleich zum Ausland eine äusserst liberale Haltung zur Sterbehilfe: Beihilfe zum Suizid ist nur dann strafbar, wenn sie aus «selbstsüchtigen Motiven» geschieht. In die Schlagzeilen geriet vor allem Dignitas, weil diese Organisation auch Menschen aus dem Ausland beim Sterben hilft, die dazu eigens in die Schweiz einreisen.

Dabei ging vergessen, dass jährlich mehrere Dutzend Leute mit Hilfe von Exit aus dem Leben scheiden, die nicht todkrank sind, sondern einfach nicht mehr leben mögen und beschliessen, ihr Dasein selbstbestimmt und «begleitet» zu beenden – sei es aus Angst vor dem körperlichen Verfall, vor dem Pflegeheim, vor dem Verlust der Würde oder vor den Schmerzen.

Entwicklung der Sterbehilfe

Von Exit (Deutsche Schweiz) und Dignitas begleitete Suizide seit 2000

Quelle: Franca Candrian/Luxwerk

Exit hat über 53'000 Mitglieder. Und es werden immer mehr: Es wächst eine Generation heran, die über das Sterben unbefangener denkt als noch deren Eltern und die nicht mehr religiös imprägniert ist. Sie sieht in Sterbehilfeorganisationen schlicht eine Dienstleistung – wie eine Rückversicherung. Eine Rückversicherung für einen schmerzfreien, sanften, würdevollen Tod.

Vier Schlucke Gift und ein Praliné

Die 67-jährige Sabine A. (Name der Redaktion bekannt) dachte immer wieder daran, sich umzubringen (siehe «Eine Woche vor ihrem Tod»). Im Internet lud sie sich Seiten herunter, eigentliche Suizidanleitungen. Seit dem Tod ihres Mannes mochte die an verschiedenen Gebresten Leidende nicht mehr weiterleben, nur noch den Angehörigen zuliebe tat sie es. Jede einzelne Einschränkung ginge ja noch, erklärte sie, doch die Summe der Schmerzen wurde unerträglich. Deshalb beschloss sie vergangenen Frühling, das Leben «abzulegen». Auf die Idee, sich an Exit zu wenden, kam sie zuerst gar nicht; es war eine ins Vertrauen gezogene Freundin, die ihr den Tipp gab. Sabine A. schätzte sich selber als Grenzfall ein, fürchtete die Ablehnung – doch sie täuschte sich.

Am 11. Dezember 2009 nimmt sie im Beisein einer «Freitodbegleiterin», ihres Lieblingsbruders und einer Freundin den Gifttrunk. Sie zündet zwei Kerzen an, schminkt sich und gibt – als ehemalige Pianistin – auf dem Flügel ein kleines Hauskonzert: etwas Melancholisches von Bach, dann Chopin und zum Schluss Mozart. «Das passte irgendwie zu ihr», erzählt die Exit-Vertreterin Barbara Vonarburg (Name geändert). «Diese eigenartige Steigerung vom Schweren zum Leichten. Grade andersherum als im Konzertsaal.»

Vonarburg ist gelernte Lehrerin und arbeitet ehrenamtlich für Exit. Letztes Jahr begleitete sie acht Menschen in den Tod. Mehr als zwölf sind nicht erlaubt, «zwecks Vermeidung von Routineabläufen», wie es in einer Vereinbarung zwischen Exit und dem Kanton Zürich heisst, die Sterbehilfe detailliert regelt. Mit Sabine A. hat Vonarburg im Juni zum ersten Mal gesprochen. «Sie äusserte den Wunsch, noch vor dem Winter zu sterben.» Es folgen ein Dutzend Telefonate, dann ein zweiter Besuch. «Wir assen Kugelglace mit Beerensaft und führten ein freundschaftliches Gespräch von Frau zu Frau.»

40 Prozent der Sterbewilligen überlegen es sich nach diesen Vorgesprächen anders, nehmen den Sterbewunsch zurück und leben weiter. Beruhigt, für den schlimmsten Fall das Rezept für das Gift und das nötige Attest zu besitzen, das ihre Urteilsfähigkeit bescheinigt. Oder sie sterben eines natürlichen Todes.

Sabine A. bleibt bei ihrem Entscheid. Mitte Oktober telefoniert sie: Es werde immer mühsamer, gehe bergab, sie wolle am 11. Dezember sterben, sie entscheidet sich für 15 Uhr. Sie trinkt das Gift in vier Schlucken, spült mit einem Fruchtsaft nach und isst ein letztes Praliné. Die letzten Worte sind Worte der Dankbarkeit: «Danke. Jetzt geht es mir gut.» Mit diesem Dank geht Barbara Vonarburg um 18 Uhr nach Hause.

  • 15'000 bis 25'000
    Menschen pro Jahr unternehmen einen Suizidversuch (gemäss einer Schätzung des Bundesamts für Gesundheit)

  • 1360
    Menschen sind im Jahr 2007 durch Suizid gestorben.

  • 400
    Menschen haben 2007 mit Hilfe von Exit (Deutsche Schweiz), Exit (Romandie) und Dignitas Suizid begangen.

  • Etwa 60
    Menschen hat Exit (Deutsche Schweiz) 2007 begleitet, die nicht sterbenskrank, sondern «lebenssatt» waren (eigene Angaben von Exit).


Quelle: Gesetzesentwurf des Bundesrats

Ein Signal für lebenswillige Kranke?

Was Sterbehilfeorganisationen als Dienst am leidenden Menschen beschreiben, ist für Yves Rossier schlicht eine kommerzielle Dienstleistung mit sehr gefährlicher Tendenz. «Diese Organisationen bestimmen, wen sie in den Tod begleiten. Das darf doch einfach nicht sein: dass ein privater Verein über solch wichtige Fragen entscheidet» (siehe Interview). Für ihn ist das klar Sache des Gesetzgebers.

«Sicher nicht», entgegnet Exit-Präsident Hans Wehrli. «Der Gesetzgeber darf nicht verordnen, wer leben muss und wer sterben darf. Das wäre staatliche Menschenquälerei. Diesen Entscheid darf nur der Einzelne fällen», sagt Wehrli, der von 1992 bis 1998 als FDP-Vertreter im Stadtrat von Zürich sass. Exit arbeite auch nicht kommerziell. «Freitodbegleiter prüfen nur, ob ein Sterbewilliger urteilsfähig und sein Sterbewunsch wohlerwogen, autonom gefällt und konstant ist.»

Wehrlis Argumente überzeugen Rechtsprofessorin Regina Kiener von der Universität Zürich nicht. Für sie macht einen entscheidenden Schritt, wer sich beim Suizid helfen lässt: Er «bricht die Sphäre des höchstpersönlichen Handelns auf und trägt den Suizid in den gesellschaftlichen Bereich», analysiert sie in einem Vortrag. Anders formuliert: Es ist keine Privatangelegenheit mehr, wenn sich jemand mit Hilfe einer Organisation umbringt. Jeder begleitete Suizid hallt in der Gesellschaft nach. Sendet ein Signal aus. Und Yves Rossier, als Amtsdirektor beim Bund auch Chef der Invalidenversicherung, spricht von einem «fatalen Signal», das Behinderte oder einfach nur alte Menschen empfangen: nämlich «dass ihr Leben weniger lebenswert sei». Der Druck auf solche Menschen, sich das Leben zu nehmen, würde seiner Meinung nach steigen.

Dieses Argument ist weder zu beweisen noch zu widerlegen. Brisant ist es allemal, besonders vor dem Hintergrund, dass wir immer älter werden. Chronische Krankheiten sind der Preis für ein langes Leben, die Zahl der Hochbetagten und Pflegebedürftigen nimmt zu. Ebenso steigen die Gesundheitskosten. Vom Problem der Pflegekosten mal ganz abgesehen, das politisch auf die lange Bank geschoben wurde. «Was, wenn das rechtzeitige Sterben vor dem körperlichen und geistigen Abbau zur gesellschaftlichen Norm für richtiges Sterben wird?», fragt Rechtsprofessorin Kiener, die Rossiers Befürchtung teilt. Um das zu verhindern, müsse das Rechtsgut Leben «vor Aufweichung und damit letztlich auch vor Abwertung» geschützt werden.

«Das Pflegepersonal sträubt sich»

Ist der Sterbewunsch eines Turo Kipf und einer Sabine A. also ein egoistischer Anspruch, vor dessen Folgen nicht nur die Schwächsten, sondern bald alle gebrechlichen alten Menschen geschützt werden müssen? «Da malt man ein Gespenst an die Wand», findet Exit-Präsident Wehrli. Einen Druck auf Sterbewillige habe Exit noch nie festgestellt. «Im Gegenteil: Angehörige und Pflegepersonal sträuben sich regelmässig dagegen, wenn jemand sich umbringen will.» In keinem Land habe die Suizidrate plötzlich zugenommen, nur weil man die Sterbehilfe erlaubt habe.

Zwei Grundrechte prallen aufeinander: auf der einen Seite das von der Verfassung garantierte Recht des Sterbewilligen, Art und Zeitpunkt des eigenen Todes zu bestimmen. Auf der anderen Seite stehen das Recht auf Leben – eines der fundamentalsten Rechte des Menschen überhaupt – und die Pflicht des Staates, seine schützende Hand über Kranke, Pflegebedürftige und Behinderte zu halten, die weiterleben wollen, ohne sich rechtfertigen zu müssen.

Fünf Wochen vor seinem selbstgewählten Todestag wirkte Turo Kipf hellwach und neugierig. Nur die getönte Brille und der Gehstock mit Goldknauf liessen erahnen, dass sein Körper gebrechlich war. «Wenn ich mich so reden höre, denke ich auch: Wieso will dieser Mann sterben?» Schnippte die Frage aber augenblicklich weg: «Aber Sie sehen ja nicht in mich hinein.»