An einem Morgen im Mai 2019 war Ralf U. mit seinem Smart Roadster am Vierwaldstättersee unterwegs. Auf der Seestrasse in Hergiswil wurde er geblitzt. Der Radar mass 89 Stundenkilometer, erlaubt gewesen wären 40. Wegen einer Baustelle war die Höchstgeschwindigkeit begrenzt worden.

Ralf U. erhielt einen Strafbefehl aufgebrummt wegen «vorsätzlich grober Verletzung der Verkehrsregeln». Als Busse für die 49 Stundenkilometer, die er zu schnell fuhr, sprach die Staatsanwaltschaft Nidwalden 1000 Franken aus und verurteilte ihn zu 180 Tagessätzen à 70 Franken, total also 13’600 Franken. Eine teure Fahrt.

Ralf U. erhob Einsprache. Sein Anwalt zweifelte die Messgenauigkeit des Radargeräts an. Einsprachen werden bei Strafbefehlen standardmässig empfohlen. Denn es bleiben gerade mal zehn Tage Zeit. Danach wird aus dem Strafbefehl ein rechtskräftiges Urteil.

Mit einer Einsprache gewinnt man Zeit, erhält Akteneinsicht und hat nichts zu verlieren. So der Konsens vieler Anwälte. Bis jetzt. Denn diese Haltung ist ein Trugschluss, wie sich im Fall von Ralf U. erstmals zeigen sollte.

«Die Möglichkeit, die Einsprache zurückzuziehen, besteht nur dann, wenn die Staatsanwaltschaft nach Abnahme der Beweise am ursprünglichen Strafbefehl festhält.»

Aktuelles Bundesgerichtsurteil

Die Staatsanwaltschaft gab nach der Einsprache ein Gutachten in Auftrag. Fachleute vom Eidgenössischen Institut für Metrologie kamen darin zum Schluss: Die Messung ist gültig. Und nicht nur das: Ralf U. fuhr gar «mindestens 50 Stundenkilometer» zu schnell.

Dummerweise führte diese Messkorrektur um einen Stundenkilometer dazu, dass nun der sogenannte Rasertatbestand erfüllt war. Statt nur zu einer Busse wurde Ralf U. in der Folge zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt.

Sein Verteidiger versuchte, die Einsprache zurückzuziehen und den ursprünglichen Strafbefehl zu akzeptieren – ohne Erfolg. «Die Möglichkeit, die Einsprache zurückzuziehen, besteht nur dann, wenn die Staatsanwaltschaft nach Abnahme der Beweise am ursprünglichen Strafbefehl festhält. Nicht hingegen, wenn sie einen neuen Strafbefehl erlässt oder Anklage beim zuständigen Gericht erhebt», schreibt das Bundesgericht in seinem Urteil vom 18. Januar 2023 (6B_222/2022). Dieses befand über den Fall, nachdem sich der Anwalt des Rasers bis zur letzten juristischen Instanz gewehrt hatte.

«Ich bin bei der Beratung meiner Mandanten und Mandantinnen in Zukunft zurückhaltender und würde nicht mehr in jedem Fall eine Einsprache empfehlen.»

Strafverteidiger Silvan Fahrni

In Anwaltskreisen sorgte der Entscheid für grossen Wirbel. «Der Bundesgerichtsentscheid hat grosse Auswirkungen auf die Praxis», sagt der erfahrene Strafverteidiger Silvan Fahrni.

Die Risiken bei einer Einsprache seien nun höher. Bislang habe die Devise gegolten: Im Zweifel Einsprache einlegen. Man habe nur gewinnen können. Kam man nach der Akteneinsicht zum Schluss, der Fall sei nicht zu gewinnen, habe man die Einsprache zurückgezogen und den Strafbefehl akzeptiert, so Fahrni.

Der vorliegende Fall zeige nun, dass der Schuss auch nach hinten losgehen könne. «Ich bin bei der Beratung meiner Mandanten und Mandantinnen in Zukunft zurückhaltender und würde nicht mehr in jedem Fall eine Einsprache empfehlen.»

«Es wird hochgradig problematisch, wenn Anwälte nun vorsichtiger werden, eine Einsprache zu empfehlen.»

Strafrechtsprofessor Marc Thommen

Das alarmiert Strafrechtsprofessor Marc Thommen von der Universität Zürich. Er gilt als renommiertester Experte für das Strafbefehlsverfahren, hat seine Habilitation zum Thema verfasst und leitet seit Jahren eine Nationalfondsstudie dazu. «Es wird hochgradig problematisch, wenn Anwälte nun vorsichtiger werden, eine Einsprache zu empfehlen. Die niederschwellige Einsprachemöglichkeit legitimiert überhaupt erst das Strafbefehlsverfahren, macht es EMRK-konform.» (Europäische Menschenrechtskonvention, Anm. d. Red.)

Auch sollten Beschuldigte nicht aus Angst vor negativen Konsequenzen darauf verzichten, sich gegen Entscheide zu wehren, mit denen sie nicht einverstanden sind, sagt Thommen.

Er kritisiert, dass das Bundesgericht immer noch davon ausgeht, dass das sogenannte Schlechterstellungsverbot im Strafbefehlsverfahren nicht gilt. «Meines Erachtens darf die Staatsanwaltschaft neue Beweise nach einer Einsprache nur verwenden, wenn sie sie vorher nicht hätte erheben können oder sie den Beschuldigten entlasten.» Rechtlich hingegen habe der Entscheid nichts Neues gebracht, sagt Strafrechtsprofessor Thommen. «Das Gesetz sieht diese Möglichkeit seit 2011 vor und wurde richtig ausgelegt. Das Bundesgericht hat aber noch einmal deutlich gemacht, dass man das Verfahren mit einer Einsprache potentiell aus der Hand gibt.»