Ein St. Galler Arzt verschreibt einem Covid-19-Patienten das Desinfektionsmittel Chlordioxid. Der Fall macht Schlagzeilen Covid-19 St. Galler Arzt gibt gefährliches Chlordioxid ab . Recherchen zeigen jetzt: In der Schweiz gibt es eine lebhafte Community, die fest davon überzeugt ist, die für die Wasseraufbereitung verwendete Substanz Chlordioxid heile Krankheiten wie Alzheimer, Malaria, Autismus oder HIV – und wirke auch bei Covid-19. 

Die ganze Propaganda rund um das angebliche Allheilmittel wird massgeblich aus der Schweiz gesteuert. Dazu dient ein Netzwerk von Firmen und Vereinigungen, die im Kanton St. Gallen und in Liechtenstein ansässig sind. Das Mittel nennen sie CDL (Chlordioxidlösung), CDS (Chlorine Dioxide Solution) oder MMS (Miracle Mineral Supplement). Diese Substanz ist von der Kontrollbehörde Swissmedic nicht für eine medizinische Anwendung zugelassen. Die US-Heilmittelbehörde warnt seit Jahren, die Einnahme von Chlordioxid sei gefährlich; sie hat den Verkauf sogar per einstweiliger Verfügung verboten

Kalcker führt Chlordioxid-Injektion an Seminaren vor

Der wichtigste Exponent, der Chlordioxid seit Jahren auf der ganzen Welt anpreist, ist Andreas Kalcker. Der gebürtige Deutsche lebte jahrelang in Spanien, inzwischen wohnt er im St. Galler Rheintal. Er nennt sich Biophysiker und tourt als Vortragsreisender um die Welt. Unzählige Bilder und Videos zeigen Kalcker, wie er in Südamerika Professoren und Behörden seine angeblich wissenschaftlichen Erkenntnisse präsentiert. «In Bolivien und Mexiko erhielt ich erst kürzlich mehrere Auszeichnungen und sogar einen Ehrendoktortitel einer staatlichen Universität», sagt er. 

Kalcker, eloquent und charismatisch im Auftritt, hielt in der Schweiz Seminare, in denen er demonstriert, wie man Chlordioxid selbst herstellt oder wie man die Chlordioxidlösung intravenös spritzt, berichtet ein Kursteilnehmer. «Ich führe die Infusion nur an mir selbst vor», relativiert Kalcker. Er zieht alle rhetorischen Register: Wer die Abgabe der Substanz verhindere oder kritisch darüber berichte, habe Menschenleben auf dem Gewissen. 

Andreas Kalcker wirbt in einem seiner Videos, Corona sei besiegt worden.

Grosse Versprechen, keine gesicherten Beweise: «Biophysiker» Andreas Kalcker wirbt für Chlordioxid.

Quelle: ZVG
Tipps zu Ärzten und Shops über soziale Netzwerke

In sozialen Netzwerken wird Kalcker von einer eigentlichen Fangemeinde fast vergöttert. Nachdem der Beobachter Kalcker kritische Fragen zu seinen Tätigkeiten gestellt hatte, mobilisierte er mit einem vorgefertigten Schreiben seine Anhänger. Innerhalb weniger Stunden treffen gegen 300 Mails aus ganz Südamerika auf der Redaktion ein. 

Im deutschsprachigen Raum finden sich Tausende Anhänger auf dem Messengerdienst Telegram zusammen. In zahlreichen Gruppen verteufeln sie die Pharmaindustrie und helfen einander mit Tipps und Hinweisen aus – etwa welche Naturheilpraktiker und Ärzte die Substanz Patientinnen und Patienten verabreichen. Auf diesen Kanälen werden auch Links zu mehreren Schweizer Onlineshops verbreitet, die Kalckers Mittel verkaufen.

Was die meisten Chlordioxid-Anhänger nicht wissen: Kalcker ist eng verflochten mit der Genesis 2 Church, einer amerikanischen Sekte, gegründet vom einstigen Scientologen Jim Humble. Kalcker publizierte sein Buch «Gesundheit verboten» in Humbles Verlag. Inzwischen in elfter Auflage.

26 «Protokolle» gegen diverse Krankheiten – auch unheilbare

In Anlehnung an das Bibelkapitel Genesis 2 verspricht der inzwischen betagte Humble, die Welt von Krankheiten zu befreien. Bei Kalcker klingt es ganz ähnlich: «Mein Wunsch ist es, Menschenleben zu retten.» Die verdünnten Chlordioxidlösungen MMS und CDL bezeichnet die Genesis 2 Church als ihre «Sakramente». 

Kalcker verbirgt seine Nähe zu Humble nicht. Aber: «Ich bin kein Mitglied der Genesis 2 Church und habe keine Beziehung zu dieser Kirche.» Mit seinem Buch brachte er zu Papier, was Humble seit Jahrzehnten predigt: Mit einer stark verdünnten Chlordioxidlösung liessen sich alle Krankheiten heilen – auch unheilbare. In 26 «Protokollen» hat er Anwendungsbereiche definiert, die vom Schlucken bis zu Vaginalspülung, rektalem Einlauf und intravenöser Abgabe reichen – jeweils mit genauen Mengenangaben und Zeitintervallen für die Behandlung. 

Der «Biophysiker» Andreas Kalcker in seinem Labor.

So präsentiert sich Andreas Kalcker in einem Werbevideo zu Chlordioxid.

Quelle: ZVG
Drei Investoren wollen Chlordioxid-Forschung zahlen

Kalcker konnte seine Behauptungen zur Wirksamkeit von Chlordioxid nie wissenschaftlich belegen. Das schien sich zu ändern, als er den Zürcher Unternehmer Urs Odermatt auf einem seiner Seminare kennenlernte. Odermatt verfügte über Kontakte zu einem Investor namens Samuel Gauro und zu der aus Bulgarien stammenden Geschäftsfrau Boyka Angelov, die seit Jahren mit einer internationalen Handelsfirma in der Pharmabranche tätig ist. Die drei hätten sich von Kalcker blenden lassen, sagt Angelov heute. «Er kann sehr überzeugend präsentieren, das ist eine seiner grossen Stärken.» 

Gemeinsam gründeten Odermatt, Angelov und Gauro die Firma Schweizer Zentrum für wissenschaftliche Forschung, Innovation und Entwicklung AG. Hier hätte Kalcker den wissenschaftlichen Nachweis zur Wirksamkeit von Chlordioxid erbringen und damit die Zulassung als Medikament erreichen sollen. Dazu liessen sie drei Erfindungen von Andreas Kalcker beim Eidgenössischen Institut für Geistiges Eigentum patentieren: eine «wässrige Lösung von Chlordioxid» gegen «innere akute oder chronische Entzündungen», zur «lokalen oder systemischen Behandlung» von akuten Vergiftungen durch Pflanzen, Pilze, Meerestiere, Amphibien, Reptilien, Spinnen oder Insekten sowie zur Behandlung von Infektionskrankheiten mittels Injektionen. 

Doch dann kamen die Pläne ins Stocken. Inzwischen geben sich die Beteiligten gegenseitig die Schuld. Gauro sagt, Kalcker habe sich nicht an das vereinbarte wissenschaftliche Vorgehen gehalten. Angelov: «Kalcker ist unfähig, seriöse wissenschaftliche Forschung zu betreiben.» Immer wieder vertröstete Kalcker seine Geldgeber, sichtbare Forschungsresultate soll es nicht gegeben haben.

Ausserdem habe Kalcker im Namen des Zentrums öffentlich Heilsversprechen zu Chlordioxid gemacht – was nicht erlaubt ist. Kalcker schreibt hingegen in seinem Buch «Gesundheit verboten»: «Ich spreche zu keinem Zeitpunkt eine Behandlungsempfehlung aus.» Für Angelov, die als Leiterin des Zentrums in der Verantwortung stand, war die Situation ein grosses Risiko. «Er ist wie ein kleines Kind, das man schwer kontrollieren kann.»

Andreas Kalckers Buch Gesundheit verboten

Kalckers Buch erscheint im Verlag eines Sektengurus.

Quelle: PD

«Ich distanziere mich in aller Form von Andreas Kalcker.»

Samuel Gauro, ehemaliger Investor des Schweizer Zentrums für wissenschaftliche Forschung, Innovation und Entwicklung AG

Kalcker kassierte einen Monatslohn von 10'000 Franken, alle anderen sollen unentgeltlich gearbeitet haben. Zudem finanzierten ihm die Investoren laut Gauro einen Geschäftswagen, ein Labor in Grabs SG und schliesslich auch noch den Lohn seiner Tochter. In knapp zwei Jahren soll der selbsternannte Heiler mindestens 300'000 Franken verbraucht haben. Am Ende blieben nicht nur die Forschungsresultate aus, auch die drei Investoren zerstritten sich – und die Firma musste liquidiert werden. 

«Ich habe die gesamten investierten Gelder verloren und distanziere mich in aller Form von Kalcker», sagt Gauro. Auch Angelov hat 150'000 Franken verloren, die sie laut eigenen Angaben in die Firma eingeschossen hat. Wie auch Investor Odermatt betont sie, sie hätte seit dem Zusammenbruch des Zentrums keinen Kontakt mehr zu Kalcker. 

Und was sagt Andreas Kalcker dazu? Er bedaure, dass man wegen fehlender Gelder nicht habe weiterforschen können. «Für mich war es ein schwerer Schlag, als ich nach zwei Jahren entlassen wurde und mich beim RAV melden musste.» Zwischen Gauro und Kalcker ist zudem ein Streit entbrannt über einen Grundstücksverkauf in Spanien. Mit dem Erlös hätte man gemäss Gauro weitere Gelder für die Forschung bereitstellen wollen.

Vereinigung Comusav macht Werbung für Chlordioxid

Der Flop mit dem Forschungszentrum scheint Kalcker nicht zu schaden. In seinen Videos wirbt er fleissig mit den drei Patenten und suggeriert damit, Chlordioxid sei als Medikament quasi etabliert. Doch ein eingetragenes Patent bedeutet noch nicht, dass ein Wirkstoff auch zugelassen ist.

Kalcker baute sich unabhängig von seinen Investoren noch ein eigenes Netzwerk mit Vereinigungen und Firmen auf. Nur wenige Tage nachdem das «wissenschaftliche Zentrum» dem Konkursamt die Überschuldung bekanntgegeben hatte, wurde im nahegelegenen Heiden AR der Verein für naturwissenschaftliche Biophysik gegründet. Hier ist Kalcker laut eigenen Angaben angestellt – obwohl der Verein gemäss Handelsregister derzeit liquidiert wird. Offiziell tritt er bei dieser Vereinigung gar nicht in Erscheinung, allerdings amtiert seine Frau als Protokollführerin.

Ein wichtiges Puzzleteil in Kalckers Netzwerk ist die Vereinigung Comusav, angeblich ein weltweites «Gesundheitsbündnis» von 5000 Ärzten, Therapeuten und Wissenschaftlern, die sich «für das Leben» einsetzen – und vor allem fleissig Werbung für Chlordioxid machen. 

«Für mich war es ein schwerer Schlag, als ich nach zwei Jahren entlassen wurde.»

Andreas Kalcker, Buchautor und «Biophysiker»

Neuerdings wirbt Kalcker auch mit einer angeblich unabhängigen Studie zur Anwendung von Chlordioxid bei Covid-19, die im März publiziert wurde («Determination of the Effectiveness of Chlorine Dioxide in the Treatment of COVID 19», zu Deutsch: «Bestimmung der Wirksamkeit von Chlordioxid bei der Behandlung von Covid 19»). «Ich werde in der Studie zwar erwähnt, aber ich habe daran nicht als Autor mitgearbeitet», sagt Kalcker.

Auf den ersten Blick sieht alles gut aus: Untersucht wurden 20 Patienten mit Covid-19, die mit einer verdünnten Chlordioxidlösung behandelt wurden. Dazu eine Vergleichsgruppe, die die Substanz nicht erhielt. Das Fazit: Symptome und Beschwerden nahmen bei den mit Chlordioxid behandelten Patienten schneller ab als bei jenen, die nicht behandelt wurden.

Allerdings hat die Studie gleich mehrere Mängel. Zum einen ist es keine Doppelblindstudie – bei der weder Arzt noch Patient wissen, ob ein Medikament oder ein Placebo verabreicht wird. Das wäre wissenschaftlicher Standard. 

Zum anderen ist die Studie überhaupt nicht unabhängig. Finanziert wurde sie von der Genesis Foundation. Als Hauptautor ist Eduardo Insignares aufgeführt. Seine Funktion: Global Research Director beim Liechtensteiner Verein für Wissenschaft und Gesundheit. In der Ausschreibung war er noch als Zuständiger der Genesis Foundation aufgeführt. 

Im gleichen Liechtensteiner Verein ist auch Kalcker tätig – als Managing Director. Wie sich der Verein finanziert, ist unklar. Ebenso offen bleibt, ob er ein pseudowissenschaftlicher Ableger der Genesis 2 Church ist. An der Adresse in Liechtenstein befindet sich bloss ein Briefkasten. 

Der Sitz der Vereinigung Comusav in Sennwald.

Hier laufen die Fäden zusammen: Am Sitz der Comusav in Sennwald SG.

Quelle: Privat
Spur führt nach Sennwald

An der Adresse der «Ärztevereinigung» Comusav hingegen wird klar, bei wem die Fäden aller Personen, Vereine und Firmen zusammenlaufen: Andreas Kalcker. Am Briefkasten in Sennwald SG findet sich sein Name – und der des in Liquidation befindlichen Vereins für naturwissenschaftliche Biophysik. Zudem ist eine Firma angegeben, die Kalcker gemeinsam mit einem Geschäftspartner Ende 2018 gründete. Und – so ein Zufall – auch der Name des Studienleiters und Genesis-Forschers Eduardo Insignares. 

Doch wie sagte Andreas Kalcker? «Ich habe mit der Studie nichts zu tun, ich habe nur die Grundlagenforschung gemacht. Wenn damit Menschenleben gerettet werden können, habe ich mein Ziel erreicht.»

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