Beobachter: Frau Welge-Lüssen, in den Winterferien am Skilift nahm ich einen metallischen Geruch wahr und wusste: Das riecht nach Skilift. Ist es typisch, dass wir Geruchserinnerungen an bestimmte Orte haben?
Antje Welge-Lüssen: Das zeigt, dass Gerüche stark mit Emotionen und Erinnerungen gekoppelt sind. Sie werden direkt in Hirnregionen wie Amygdala und Hippocampus verarbeitet. Und die sind auch für Emotionen und Erinnerungen zuständig. Deshalb erinnern wir uns gut an Gerüche aus der Kindheit. Wir wissen unser Leben lang, wie es bei der Grossmutter gerochen hat. Düfte können solche Erinnerungen auch wieder hervorrufen.


Auch die Heilkunde setzt auf Düfte: Wirken Aromatherapien tatsächlich?
Das kann man nicht verallgemeinernd sagen. Aber es gibt ganz sicher Situationen, in denen Düfte wirken können. Untersuchungen zeigen zum Beispiel, dass in Wartezimmern die Angst oder die Anspannung von Patienten abnimmt, wenn angenehme Düfte verströmt werden. Düfte können uns also beruhigen.


Wie viele Düfte kann ein Mensch unterscheiden?
Man sagt, mehrere Millionen. Wir haben etwa 350 bis 400 Geruchsrezeptoren in der Nase. Jeder ist anders. Und einen Geruch wie jenen der Orange nehmen wir wahr, indem diverse Rezeptoren zusammenspielen. Es gibt unendlich viele Kombinationen.


Es heisst, Frauen hätten eine feinere Nase als Männer. Weshalb ist das so?
Das weiss man nicht genau. Eine Theorie ist, dass der Geruch wichtig ist bei der Pflege von Säuglingen und Kindern. Aber der Unterschied zwischen Frau und Mann ist gering – im Alter nimmt das Riechvermögen bei beiden ab.

«Der Geruchssinn warnt uns vor Gefahren: zum ­Beispiel vor Feuer oder verdorbenen Lebensmitteln.»

Antje Welge-Lüssen, leitende Ärztin am Unispital Basel

Was entscheidet, ob wir einen Geruch anziehend oder abstossend finden?
Sehr vieles ist erlernt. Wir gewöhnen uns zum Beispiel an die Gerüche von Speisen, die bei uns auf den Tisch kommen. In Schweden wird traditionell eine bestimmte Art vergorener Fisch gegessen. Viele Schweden mögen ihn. Aber bei uns würden die allermeisten Menschen sagen, dass er brutal stinkt.
 

Wenn man Menschen fragt, auf welchen ihrer fünf Sinne sie am ehesten verzichten würden, nennen sehr viele den Geruchssinn. Wäre das ein Fehler? 
Der Geruchssinn ist sicher ein unterschätzter Sinn. Er ist wichtig für unsere Lebensqualität.
 

Inwiefern?
Wenn wir ihn nicht mehr haben, schmeckt das Essen fade. Er vermittelt uns die Nuancen des Aromas. Wir riechen unsere Kinder, unsere Bettwäsche, den Sommer. Daneben warnt uns der Geruchssinn vor Gefahren: zum Beispiel vor Feuer oder verdorbenen Lebensmitteln Haltbarkeit von Lebensmitteln Kann ich das noch essen? . Und er hat auch einen Einfluss auf die Partnerwahl. 
 

Was löst eine Riechstörung aus? 
Von den über 80-Jährigen riecht etwa die Hälfte nichts mehr. Ungefähr 60 Prozent aller Corona-Patienten leiden unter einem Riechverlust Leben ohne Geruchssinn Die Frage, die ständig im Raum steht: «Was, wenn ich stinke?» . Auch andere Infektionen wie eine Grippe können ein Auslöser sein, aber das ist deutlich seltener. Typisch sind auch Erkrankungen der Nasennebenhöhlen. Selten sind Tumoren am Riechnerv verantwortlich für eine Riechstörung, oder es kommt zu einem Riechverlust nach einer Operation. Eine relativ häufige Ursache sind Unfälle, besonders Stürze auf den Kopf.
 

Weshalb verlieren Menschen deswegen den Geruchssinn?
Die Riechsinneszellen in unserer Nase sind durch Nervenausläufer, die Axone, mit den Riechkolben im Gehirn verbunden. Die Axone durchqueren eine dünne Knochenplatte, das Siebbein. Wenn wir einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, bewegt sich unser Hirn, weil es in der Hirnflüssigkeit schwimmt. Diese Scherbewegung kann dazu führen, dass die Axone am Siebbein gequetscht oder durchtrennt werden.

«Wer nichts mehr riecht, wird oft unsicher.»

Antje Welge-Lüssen, leitende Ärztin am Unispital Basel

Wie sehr schränkt der Riechverlust Betroffene ein?
Das ist unterschiedlich. Die Abnahme des Riechvermögens im Alter ist ein schleichender Prozess. Viele Betroffene realisieren das gar nicht und fühlen sich entsprechend wenig beeinträchtigt. Wenn aber ein junger Mensch das Riechvermögen durch Unfall oder Krankheit verliert, ist es einschränkend. Ein feines Essen oder ein aufregendes Parfüm, das fällt weg. Und wer nichts mehr riecht, wird oft auch unsicher.
 

Weshalb?
Betroffene können keinen Rauch mehr wahrnehmen – und sie merken nicht, ob ihre Kleidung müffelt Unangenehmer Körpergeruch Von Schweissfüssen, Blähungen und Mundgeruch und gewechselt werden muss.
 

Wie messen Sie, ob ein Patient einen verminderten Geruchssinn hat?
Mit ausführlichen Riechtests. Der Patient riecht an ganz vielen Düften. Wir messen, ab welcher Schwelle er einen Duft wahrnimmt, wie gut er Düfte identifizieren und voneinander unterscheiden kann. Das vergleichen wir dann mit den Normdaten für das entsprechende Alter.
 

Wie behandelt man Riechstörungen?
Das hängt von der Ursache ab. Bei einer chronischen Nebenhöhlenentzündung etwa gilt es, diese zu behandeln. Nach einem Infekt versuchen wir, die spontane Erholungsrate mit einem sogenannten Riechtraining zu stimulieren. Und gegen bestimmte Riechstörungen helfen neuartige Medikamente. Vitamin-A-haltige Nasentropfen scheinen die Regeneration zu fördern. Laut ganz neuen Daten unterstützen wohl ungesättigte Omega-3-Fettsäuren das Riechtraining.
 

Läuft die Regeneration kontinuierlich ab?
Manchmal wachsen einzelne Geruchsrezeptoren schneller nach als andere. Das kann zu einem sogenannten Fehlriechen führen. Für einen Patienten riecht dann beispielsweise eine Orange plötzlich nicht mehr nach Orange, sondern komisch.
 

Bleibt das so?
In der Regel erholt sich der Geruchssinn wieder. Es kann auch sein, dass sich eine Person daran gewöhnt.

Zur Person

Antje Welge-Lüssen ist Leitende Ärztin an der Hals-Nasen-Ohren-Klinik des Unispitals Basel. Ihr Forschungsschwerpunkt sind Riech- und Schmeckstörungen.

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