Enea Huwyler verlor nach und nach den Sinn fürs Räumliche. Wenn es dämmerte, hatte der Elfjährige Mühe, etwas zu erkennen. Der 18-jährige Pirmin Aebischer* empfand den Schein einer Strassenlampe als «Leuchtring mit extrem grossem Radius». Tennis musste er aufgeben, er sah den Ball nicht mehr. Und der Blick zur Wandtafel fiel dem Kantischüler zusehends schwer, weil ihm der Raum neblig erschien. Beat Zingg, 43, wechselte den Beruf. Er hatte jahrelang mit der Lupe gearbeitet, in der grafischen Industrie. Wenn er nach Hause fuhr, «sahen die Lichter der Autos aus wie Sterne. Es war sehr anstrengend.»

Keratokonus betrifft mehr Männer als Frauen

Bei allen stellte der Arzt fest: Die Hornhaut wölbt sich zunehmend kegelförmig und wird immer dünner (siehe Grafik unten). Die Folge: Die Sehkraft lässt stetig nach, weil die Hornhaut immer unebener wird. Oft sind beide Augen betroffen. Das Phänomen tritt häufiger bei Männern als bei Frauen auf, und man vermutet, es sei erblich.

Ein Schweizer Augenarzt gab der Krankheit 1869 den Namen Keratokonus. Keras heisst «Horn», Konus heisst «Kegel» – kegelförmige Hornhaut. In der Schweiz soll es gegen 5000 Betroffene geben. Meistens wird die Krankheit bei Kindern und Jugendlichen wie Enea und Pirmin diagnostiziert. Bei Beat Zingg wurde sie festgestellt, als er Mitte zwanzig war.

Was ist ein Keratokonus?

Grafische Darstellung eines Keratokonus

In der Schweiz sind gegen 5000 Personen von Keratokonus betroffen. Das Augenleiden schwächt bei den meist jungen Betroffenen das Sehvermögen und kann nur bedingt mit Sehhilfen ausgeglichen werden.

Quelle: Elza Institut, Augenärzte Bern / Infografik: Anne Seeger

Wer die Diagnose Keratokonus erhält, wird Stammkunde beim Optiker. Denn er muss die Spezial-Kontaktlinsen regelmässig anpassen lassen. Kaum sind sie fertig, hat sich die Hornhaut wieder verformt. Das dauerte bei Pirmin Aebischer manchmal «keine zwei Wochen». Die Krankenkasse vergütete pro Auge und Jahr 650 Franken.

Irgendwann ist das Tragen von Linsen allerdings nicht mehr möglich. Dann bleibt nur noch die Operation. «Die ist kein kosmetischer Eingriff», sagt Beat Zingg. Denn es gehe darum, das Augenlicht zu erhalten – und nicht, mit Hilfe des Lasers die lästige Brille loszuwerden.

Zwei Operationsvarianten kommen in Frage

Bei der einen Variante wird dem Patienten eine fremde Hornhaut eingepflanzt. Das kostet 5000 bis 6000 Franken pro Auge. Das Transplantat hält 20 bis 25 Jahre und wird von der Krankenkasse bezahlt. Das Problem: Es besteht das Risiko, dass das fremde Gewebe abgestossen wird.

Die andere Operation heisst Crosslinking. Dabei bestrahlt man das Auge wenige Minuten lang mit Ultraviolettlicht und behandelt es mit Vitamin B₂. So wird das Gewebe innert Minuten um 450 Prozent versteift. Als Experte für Crosslinking gilt der Schweizer Farhad Hafezi, ein international renommierter Professor für Augenheilkunde mit Praxis in Dietikon ZH.

Eine weltweit angewandte Methode

«Es macht mehr Sinn, die eigene Hornhaut zu erhalten, als eine fremde einzusetzen», sagt Hafezi. Das Crosslinking wurde in Zürich entwickelt und ist heute der weltweite Standard bei der Keratokonus-Behandlung. Es kostet in der Schweiz 2300 bis 2800 Franken pro Auge.

Doch auch Crosslinking ist kein Besuch beim Coiffeur. Die Mutter von Enea Huwyler erinnert sich an die «sehr anspruchsvolle» Pflege nach dem Eingriff und die Tropfen, die sie ihrem Sohn jede Stunde ins Auge geben musste, Tag und Nacht.

«Was hätte ich tun sollen? Meinen Sohn erblinden lassen?»

Vater von Keratokonus-Patient Pirmin Aebischer

Bezahlen müssen das Crosslinking die Eltern oder die Betroffenen. «Was hätte ich tun sollen? Meinen Sohn erblinden lassen?», fragt der Vater von Pirmin Aebischer. Die Mutter von Enea Huwyler sagt: «5600 Franken sind viel Geld. Ich bin alleinerziehend. Ich ging von Pontius zu Pilatus. Ohne Erfolg.» Auch Beat Zingg erhielt «keinen Rappen» von der Krankenkasse.

Die IV wies die Anträge ab. Sie schrieb Ende 2017 an Pirmin Aebischers Vater wie an Enea Huwylers Mutter, Crosslinking sei nicht «wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich», wie vom Gesetz gefordert. Die IV wiederholte damit die Zweifel, die das Bundesamt für Gesundheit (BAG) vor zehn Jahren äusserte.

Widersprüchliche Auskünfte

Warum wird die rund doppelt so teure Übertragung fremder Hornhaut bezahlt, aber das Crosslinking nicht, obwohl es – laut Experten – ebenso wirksam wäre? Der Beobachter wandte sich an das BAG und die Schweizerische Ophthalmologische Gesellschaft (SOG). Das ist die Fachgesellschaft, in der die Augenärzte organisiert sind.

Das BAG schrieb, es habe die Augenärzte nach 2008 «mehrmals» aufgefordert, einen neuen Antrag zu stellen. «Es ging jedoch nie ein Antrag von Seiten der Fachgesellschaft ein. Leistungen, die als nicht leistungspflichtig bezeichnet worden sind, werden grundsätzlich nur auf Antrag (basierend auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen) neu beurteilt», heisst es weiter.

Die Fachgesellschaft der Augenärzte schrieb, sie habe 2007 einen Antrag gestellt und «alles unternommen», damit die Kosten für Crosslinking von den Krankenkassen übernommen würden. Der Bundesrat habe die Methode 2016 «wieder rausgekippt beziehungsweise die Kostenübernahme abgelehnt». Im Übrigen könne das BAG «in seiner Kompetenz selber entscheiden», ob es eine Behandlung aufnehmen wolle oder nicht, die inzwischen von der US-Gesundheitsbehörde anerkannt werde.

Bei Eneas Mutter, Pirmins Vater und bei Beat Zingg löst dieses Patt im besten Fall Kopfschütteln aus.

* Name geändert

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René Ammann, Redaktor
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