Die Ärztin Elsa Reber* staunt nicht schlecht, als sie ihre Post sortiert. Zwischen dem üblichen Papierkram findet die Medizinerin aus dem Tessin eine hübsche Ansichtskarte von den Malediven. Die Absenderin, eine Patientin, schickt ihr Feriengrüsse und bedankt sich, dass es ihr und ihrer Familie dank Rebers Behandlungen wieder so gut geht. «Eigentlich eine nette Geste», findet die Hausärztin, «wenn da nicht die unbeglichene Rechnung über gut 3500 Franken wäre.»

Pikantes Detail: Die Patientin forderte die Behandlungskosten bei der Krankenkasse zurück und erhielt das Geld auch. Reber wartet aber bis heute auf ihr Geld, trotz mehrerer Zahlungserinnerungen . Das Loch in ihrer Kasse sei verkraftbar. Doch die Ärztin ärgert sich über das Vorgehen ihrer Patientin. «Meiner Meinung nach handelt es sich hier – neben der Unkorrektheit – auch um eine Veruntreuung der Krankenkassengelder.»

Missbrauch ist selten

Eigentlich, so könnte man meinen, ist es ein Fehler im System, dass dieses Vorgehen überhaupt möglich ist. Und die Vermutung drängt sich auf, dass findige Patienten dies gezielt ausnutzen. Doch dem widersprechen die Ärzteverbände. Philippe Luchsinger, Präsident der Vereinigung der Haus- und Kinderärzte Schweiz, räumt zwar ein, dass es in diesem Bereich Missbrauch gebe. «Aber wirklich sehr selten, die allermeisten Patienten sind dankbar und froh um die Betreuung ihres Arztes», so der Mediziner, der in einer Gruppenpraxis selbst als Hausarzt tätig ist. Und er ergänzt: «Ich bin ein Verfechter des sogenannten Tiers garant, also der Verrechnung direkt an die Patienten; das System funktioniert wunderbar.»

 

«Die Zahlungsmoral der Patienten ist sehr gut.»

Urs Stoffel, Mitglied des Zentralvorstandes FMH

 

Auch Urs Stoffel, Mitglied des Zentralvorstandes des Berufsverbandes FMH, sagt, dass der Verein klar hinter dem Prinzip des Tiers garant stehe (mehr zu den beiden Abrechnungsmodellen in der Infobox unten). «Aus unserer Sicht ist die Zahlungsmoral der Patientinnen und Patienten in der Schweiz sehr gut und die Mehrzahl der Rechnungen werden anstandslos und pünktlich bezahlt», sagt Stoffel. Auch er glaubt, dass nur wenige Patienten die Gelder zweckentfremden. «Wäre das Delkredere-Risiko für die Ärzte tatsächlich so hoch, würde wohl kein Arzt mehr mit dieser Methode abrechnen», sagt der Chirurg.

Hinzu komme, dass der Arzt mit einer Abrechnung direkt an die Krankenkasse sein Geld oft auch nicht schneller erhalte. «Häufig werden die Zahlungen bei dieser Methode durch häufigere Rückfragen zu einzelnen Leistungspositionen verzögert.» Zudem wollten viele Patienten aus Datenschutzgründen nicht, dass jede Rechnung an die Versicherung weitergeleitet werde.

Dort das Loch stopfen, wo der Druck am grössten ist

Alice Heijman macht in ihrem Berufsalltag Punkto Zahlungsmoral andere Erfahrungen. Die Beraterin bei der Luzerner Schuldenfachstelle erlebt immer wieder, dass unbezahlte Arzt- und Krankenkassenrechnungen eine zusätzliche Last für ihre Klienten sind. Dass die Leute das von der Krankenkasse zurückerstattete Geld anderweitig verwenden, komme ab und an vor. «Teilweise versuchen die Leute auf diese Weise dort das finanzielle Loch zu stopfen, wo der Druck am grössten ist», sagt Heijman. Bei einer Durchschnittsverschuldung von 60'000 Franken sei das oft nicht bei der Krankenkasse oder beim Arzt. Auch sonst bereitet das System mit den Rückvergütungen durch die Krankenkassen Heijmans Klienten Mühe. «Gerade für Menschen, denen der Umgang mit Geld schwerfällt, bedeutet dieser administrative Aufwand eine grosse Anstrengung», weiss die Schuldenberaterin.

Für viele Patienten kann nur schon zum Problem werden, wenn sie eine hohe Arztrechnung begleichen müssen und die Rückvergütung von der Krankenkasse erst später erhalten. Dies erlebt auch Franz Marty. Der Hausarzt aus Chur nennt etwa das Beispiel eines AHV-Bezügers, der jahrelang einen Blutverdünner verschrieben bekommen hat, der 20 Franken pro Packung kostet. «Wenn ich ihm nun einen anderen Blutverdünner mit modernerem Wirkstoff für 320 Franken pro Packung verschreibe, kommt er in ein Liquiditätsproblem», sagt Marty.

Ethische Konflikte bei Zweiklassenmedizin

Marty, der das System des Tiers garant schon in öffentlichen Kommentaren kritisierte, stellte vor einigen Jahren einen Antrag, dass er seine Rechnungen direkt an die Krankenkasse schicken darf. «Wir hatten rund 300 Patienten, die Behandlungskosten schuldig geblieben sind.» Darum habe man das Verrechnungssystem gewechselt. Das komme bei seinen Patienten gut an. «Von 100 Klienten wünschen sich durchschnittlich nur etwa fünf, dass wir die Rechnung zuerst an sie schicken.»

Marty sieht noch ein weiteres Problem, das durch die Rechnungsstellung direkt an die Patienten entsteht: «Wenn Medizin nur noch für Menschen zugänglich ist, die den entsprechenden Preis bezahlen können, komme ich in ethische Konflikte», sagt der Mediziner. Nicht-zahlende Patienten seien oft auch schwierig in der Behandlung und es entwickle sich ein Meidungsverhalten.

 

«Finanziell in Not geratene Patienten haben Angst, vom Arzt abgewiesen zu werden»

Alice Heijman, Schuldenberaterin

 

Das erlebt auch Schuldenberaterin Heijman. «Unsere Klienten vermeiden es häufig, zum Arzt zu gehen Krankenkasse Zum Arzt? Kann ich mir nicht leisten! , denn sie schämen sich und haben Angst, wegen unbezahlter Prämien- und Arztrechnungen abgewiesen zu werden.» Bei der Tessiner Ärztin Elsa Reber zumindest müssen Kranke davor keine Angst haben: «Bei einem obdachlosen oder in finanzielle Not geratenen Patienten stelle ich schon gar keine Rechnung, ich weiss ja, dass sie diese nie werden begleichen können. Ich behandle sie aber trotzdem, auch wenn sie keine Notfälle sind – es nicht zu tun, verstösst gegen meine ethische Auffassung des Ärzteberufs.»

 

* Name der Redaktion bekannt

Verschiedene Verrechnungsmodelle

Das Schweizer Krankenversicherungsgesetz (KVG) schreibt vor, dass Patienten grundsätzlich dem Leistungserbringer (Arzt oder Therapeut) die Vergütung für die erbrachten Leistungen schulden. Der Arzt stellt also direkt dem Patienten eine Rechnung. Dieses Prinzip nennt sich Tiers garant.

Eine Ausnahme bilden die Kantone Schwyz und Uri: Hier verschicken die Ärzte – gleich wie Spitäler und Apotheken – die Rechnung direkt an die Krankenkasse. Der Versicherte erhält zur Kontrolle lediglich eine Rechnungskopie. Die Defizitgarantie liegt hier bei den Krankenkassen. Dieses System nennt sich Tiers payant. Wenn Ärzte die Rechnung direkt an die Krankenkasse verschicken, sind sie gesetzlich verpflichtet, den Patienten im Vorfeld darüber zu informieren.

Befürworter des Tiers garant argumentieren, dass es das Kostenbewusstsein der Patienten steigere, wenn sie die Rechnung in einem ersten Schritt selbst zahlen müssen, bevor sie das Geld zurückerstattet bekommen. Und sie sollen selbst entscheiden können, welche Informationen sie an die Krankenkasse weitergeben wollen, etwa, wenn sie sich in psychiatrische Behandlung begeben oder einen HIV-Test machen.

Tipp: Patienten, die eine direkte Verrechnung an die Krankenkasse wünschen, können dies beim Arzt so einfordern.

Wissen, was dem Körper guttut.
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Chantal Hebeisen, Redaktorin
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