Frage von Martha L.: «Ich besuche einen Kurs in kreativem Schreiben. Mein Partner spottet darüber. Wir würden uns nur gegenseitig einreden, begabte Dichter zu sein, sagt er.»

Sagen Sie ihm deutlich, dass es Sie kränkt, wenn er Ihr Schreiben entwertet. Aber halten Sie sich auch vor Augen, dass er nicht der Massstab ist, an dem sich Ihr Verhalten zu messen hat. Nur Sie allein sind der Massstab, und ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie mit dem kreativen Schreiben etwas gefunden haben, was Ihr Leben bereichert. Lassen Sie sich das also nicht vermiesen.

Dabei ist es nicht nötig, dass Ihre Texte weltweite Anerkennung finden und Sie zur berühmten Schriftstellerin werden. Der Dichter Hermann Hesse meinte dazu: «Selbst das Machen schlechter Gedichte ist noch viel beglückender als das Lesen der allerschönsten.»

Kreatives Schaffen wirkt erfüllend

Kreativität tut eben gut, Kreativität ist lustvoll. Der US-Psychologe Mihály Csíkszentmihályi hat beobachtet, dass die Erschaffung von etwas Neuem, das Finden einer neuen Lösung für ein altes Problem oft mit einem sogenannten Flow-Erlebnis einhergeht, einem Gefühl des Gelingens, des Erfülltseins, das einen alles andere vergessen lässt. Wenn etwas Neues gelingt, stellt sich ein Gefühl der Erleichterung, ein Bewusstsein der eigenen Schaffenskraft ein.

Kreativität ist etwas anderes als Wissen oder einfach nur Intelligenz. Das Wissen ist eine Anhäufung von bereits Bekanntem, die Intelligenz hilft Dinge zu verstehen, die bereits jemand gedacht hat, etwa den Satz des Pythagoras. Kreativität aber führt weiter, es ist die Fähigkeit, etwas Neues zu schaffen. Der bekannteste Kreativitätsforscher, der US-Psychologe Joy Paul Guilford, hat dafür den Begriff «divergentes Denken» eingeführt. Er meint damit ein Denken, das sich ausserhalb der gewohnten Strukturen bewegt, das eine Vielfalt von Möglichkeiten sieht, das sich wenig um Normen und Regeln kümmert.

Überangepasste sind selten ideenreich

Kreativität hat einen aggressiven und einen konstruktiven Teil. Der Kreative muss den Mut haben, Althergebrachtes zu verwerfen, und die Fähigkeit, eine Vielfalt von neuen, ungewöhnlichen Ideen zu produzieren. Überangepassten und konservativen Leuten fällt es deshalb schwer, kreativ zu sein.

Umgekehrt muss man nicht unbedingt ein Rebell oder leicht verrückt sein, um schöpferisch sein zu können. Jeder Mensch hat das Potenzial zur Kreativität. Oft ist man kreativer, wenn man in schwierigen Situationen steckt. Zufriedenheit und Sattheit bremsen die Kreativität eher. Man weiss, dass viele Künstler ihre Werke aus Spannungssituationen heraus geschaffen haben.

Kreativität kann aber auch uns allen in Krisensituationen helfen. Schöpferische Aktivitäten wie Malen oder Schreiben, Töpfern oder Musizieren lösen seelische Verkrampfungen und helfen, Schwieriges zu verarbeiten.

Übrigens ist selbst Kunstgenuss kreativ. Beim Lesen, Hören oder Betrachten von Kunstwerken sind wir nämlich nicht einfach passiv, sondern selber schöpferisch. Echte Kunst enthält Leerstellen, die wir auffüllen, was ebenfalls ein Glücksgefühl auslöst.

Tipps für einen kreativen Prozess

  • Inkubationsphase (Ansteckungsphase)
    Kreativität braucht einen Auslöser. Es braucht ein starkes Gefühl, eine Spannung, ein Problem, etwas, was einen positiv oder negativ bedrängt. Das kann Verliebtheit sein, Schmerz, Freude oder Angst.

  • Divergente Phase (Sammel- und Suchphase)
    Jetzt braucht es ein bisschen Chaos, Ideenvielfalt, ein ungeordnetes Suchen möglichst ohne Bewertung. Manchmal ist diese Phase schwer zu ertragen, weil man noch nicht spürt, wohin es geht.

  • Konvergenzphase (eigentlicher Schöpfungsakt)
    Ohne Druck soll sich aus dem Chaos und Ideenhaufen langsam das Werk herauskristallisieren: ein Text, ein Gedicht, eine Tonfigur, eine Melodie, ein selbstgemachtes Lied. Das Finden dieser Lösung, dieses Endprodukts, wird von einem Glücksgefühl begleitet. Die Spannung ist weg, und man hat etwas in die Welt gestellt, was es vorher noch nie gab.