Eine Begegnung der unheimlichen Art: Im Schlaflabor wird der Versuchsperson ganz kurz das Bild einer fledermausartigen Gestalt gezeigt – die Projektion dauert weniger als eine Hundertstelsekunde. Viel zu kurz, um ins Bewusstsein vorzudringen: Das Gezeigte liegt unter der Wahrnehmungsschwelle. Dennoch wurden die Probanden im Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main von den düsteren Bildern bis in ihre Träume verfolgt. Noch am Ende der zweiten Versuchsnacht erzählten sie von furchterregenden Raubvögeln, unheimlichen Landschaften, von Mord und Totschlag. Für den beteiligten Forscher Stephan Hau ist das ein Beweis, dass Träume als psychische Abwehr funktionieren: «Sie helfen, uns ein Stück weit zu beruhigen.»

Beruhigen? Wenn jemand schweissgebadet aus einem Alptraum aufschreckt, weil ihn ein Puma angreift? Das Raubtier kommt näher und näher, aber da: ein Bus! Hinein – Tür zu – gerettet! Bis der Puma neben dem Bus herrennt und bei der nächsten Haltestelle eine erneute Attacke startet. «Träume versuchen, emotionale Probleme zu lösen», sagt auch die St. Galler Psychotherapeutin Verena Kast. «Wenn man in Panik erwacht, heisst das, dass dem Traum die Lösung nicht richtig gelungen ist.»

Im Traum werden wir wie Kinder

Der Traum mit dem Puma gehörte einem zwölfjährigen Mädchen – über viele Nächte hinweg wurde es immer wieder von ihm geplagt. Nach der klassischen freudschen Triebtheorie wäre die Bedeutung klar: die Angst vor dem Raubtier als Furcht des pubertierenden Mädchens vor der erwachenden Sexualität.

Doch diese Interpretation greife viel zu kurz, sagt Psychotherapeutin Kast. Sie verweist auf den Unterschied zwischen dem wilden Puma und dem zivilen Beförderungsmittel: «Ein typischer Kindertraum. Die Kleinen sind ja selbst ein bisschen wie Wildkatzen, und gleichzeitig haben sie Angst davor, es zu sein.» Bei einem solchen Traum gehe es deshalb auch ums Selbstbild. Kast: «Man sollte Träume nie nur in eine Richtung interpretieren, sonst werden sie furchtbar langweilig.»

In den siebziger Jahren behauptete der amerikanische Neurophysiologe Allan Hobson, Träume seien bloss zufällige elektrische Entladungen des Gehirns. Mit anderen Worten: ein bedeutungsloses Rauschen in der Seele. Heute glaubt das kaum mehr jemand. Dennoch: Obwohl Sigmund Freud mit der modernen Traumdeutung vor über 100 Jahren begann, ist bis heute nicht geklärt, wie die nächtlichen Fantasiegespinste genau wirken. Die Traumforschung hat sich inzwischen bloss von der Couch ins Labor verlagert.

So entwickelte die in Zürich und Bern tätige Psychiaterin und Neurophysiologin Martha Koukkou zusammen mit dem Neurophysiologen Dietrich Lehmann ein Traummodell, bei dem sie die Hirnströme von Erwachsenen mit jenen von Kindern verglich. Erwachsene zeigen im Wachzustand rasch aufeinander folgende Wellen – etwa acht bis zwölf pro Sekunde. Bei Kindern sind sie deutlich weniger schnell. Im Schlaf jedoch werden die Hirnwellen von erwachsenen Personen so langsam wie jene von wachen Kindern.

Nach der Theorie von Koukkou und Lehmann bedeutet das, dass im Schlaf alte Gedächtnisinhalte sowie kindliche Gedanken- und Gefühlsstrategien zugänglich werden, die im Wachzustand verschüttet sind: «Im Traum können auch Erwachsene so grosszügig und kreativ mit Realität und Fantasie umgehen, wie Kinder das tun.» Dies hilft laut den beiden Forschern, aktuelle Themen und emotionale Probleme in einem anderen Licht zu sehen.

Regenschirm? Zahnstocher?

Weil alle Träume aus der eigenen Biografie stammen, sind die Traumsymbole sehr persönlich geprägt: «Verallgemeinerungen wie ‹Regenschirm gleich Penis› sind abstrus», sagt Martha Koukkou. Wie absurd, offenbart ein Blick ins Traumlexikon: Wenn Sie im Traum einen Zahnstocher sehen, verspricht Ihnen das eine Lexikon «eine finanzielle Erleichterung». Freuen Sie sich und lassen Sie den anderen Band liegen – der prophezeit nämlich fürs gleiche Symbol «kleine Sorgen und Boshaftigkeiten».

Bei der Interpretation von Träumen sollte man sich also mehr auf die eigenen Gefühle und Assoziationen verlassen. Was bedeutet es zum Beispiel, wenn im Traum eine nahe stehende Person plötzlich verschwindet? Angst, diesen Menschen im wirklichen Leben zu verlieren? Oder gar den Wunsch, ihn loszuwerden? Nach C. G. Jung können andere Menschen im Traum auch für einen Aspekt in einem selbst stehen. In diesem Fall würde dieser Traum eine persönliche Entwicklung anzeigen.

Experten betonen, dass die Träume wirken – auch wenn wir uns nicht an sie erinnern. Unterbewusst können sie sogar helfen, Entscheidungen fürs reale Leben zu treffen. Es macht also durchaus Sinn, ein Problem eine Nacht zu überschlafen. Am bereicherndsten sind die Träume allerdings, wenn sie nicht einfach ins tiefe Vergessen fallen. Schliesslich sind manche Traumgespinste gar so schön, dass man sie am Morgen nicht mehr loslassen möchte, weil sie gerade einen tiefen seelischen Wunsch erfüllt haben. Den Wunsch, geliebt zu werden, oder die Sehnsucht nach Anerkennung. Aber auch ganz banal: «Kürzlich lag mir eine Arbeit auf der Seele. Da habe ich geträumt, dass sie schon fertig sei», erzählt Verena Kast. Was für ein wunderbares Exemplar von Wunscherfüllung! Doch als Effekt kam tatsächlich das erleichternde Gefühl auf, dass die Arbeit ja machbar sei.

Buchtipps

  • Wolfgang Mertens: «Traum und Traumdeutung»; Beck-Verlag, 3., aktualisierte Auflage, 2003, 142 Seiten, Fr. 14.60
  • Inge Strauch, Barbara Meier: «Den Träumen auf der Spur – Zugang zur modernen Traumforschung»; Huber-Verlag, 2., aktualisierte Auflage, 2004, 268 Seiten, Fr. 44.90