Eigentlich bewegen sich Kinder gern. Doch schon fünf- bis zehnjährige Mädchen treiben weniger Sport als gleichaltrige Buben. Nachdem die Kurven eine Weile immerhin parallel verlaufen sind, sackt die Linie bei den Mädchen im 15. oder 16. Altersjahr ab: Als Teenager hängen deutlich mehr Mädchen als Knaben die Sportschuhe an den Nagel. Der Verzicht auf regelmässige Bewegung kann Folgen haben: Rückenprobleme, Haltungsschäden und Übergewicht sind die häufigsten. Im Jahr 2016 waren in den Kursen von Jugend + Sport (J+S) rund 600'000 Kinder eingeschrieben, 41 Prozent waren Mädchen. Im Fussball stellen sie knapp zehn Prozent, im Tennis knapp einen Drittel, im Judo einen Viertel, in der Leichtathletik gut die Hälfte und bei Gymnastik und Tanz an die 90 Prozent. Mädchen wollen etwas anderes als Buben.

«Die Koedukation überdenken»

«Mädchen sprechen auf Themen an, die bei Buben gar nicht ankommen: Fitness, Gesundheit, gutes Aussehen», so Pierre-André Weber, der beim Bundesamt für Sport (Baspo) den Bereich Jugend- und Erwachsenensport leitet. «Nach allem, was wir wissen, sollte man im Schulsport die Koedukation überdenken.»

Gemischte Turnstunden, sagt Weber, seien zwar durchaus sinnvoll. Stunden, in denen Mädchen und Buben getrennt turnen, brächten aber für beide Seiten Vorteile: «Mädchen, die weniger konkurrenzorientiert sind als Buben, hätten in solchen Stunden weniger Leistungsdruck, die Buben könnten sich so richtig austoben», so Weber. «Auch für die gemischten Klassen sollte man sich überlegen, wie man Turnstunden anbietet, in denen es nicht nur darum geht, wie schnell jemand rennen kann.»

Eine gemeinsame Studie der Laureus-Stiftung und des Baspo belegt, dass sich die Bedürfnisse von Knaben und Mädchen immer stärker unterscheiden, je älter sie werden. Es sei wichtig, Sportlehrer besser dafür zu sensibilisieren, sagt Weber. Aber auch die Schulleitungen müssten am selben Strick ziehen. Die Laureus-Stiftung beabsichtigt, gemeinsam mit dem Baspo die Mädchenförderung zu stärken.

«Buben gehen tschutten, ob sie Talent haben oder nicht. Die Mädchen sind anders.»

Tatjana Haenni, Präsidentin FCZ Frauen

Besonderen Handlungsbedarf sehen Fachleute bei Mädchen aus Einwandererfamilien. «Sie erreichen wir ausser-halb des obligatorischen Schulsports fast nicht», sagt Weber. Er vermutet, dass es in gewissen Kulturkreisen einfach unüblich sei, Töchter für Sportkurse anzumelden – nicht zuletzt weil dort oft auch Buben sind. Hier hofft Weber auf die längerfristige Wirkung von freiwilligem Schulsport: Da Eltern der Schule meist vertrauen und die Kurse direkt an den Unterricht anschliessen, tauchen dort ab und zu diese Mädchen auf. «Wenn die Kollegin dann eines Tages im Sportverein weitermacht, kann es sein, dass sie die Freundin mitzieht – vor allem wenn diese dann schon in einem Alter ist, in dem sie den Eltern erklären kann, dass sie das unbedingt möchte – und dass nichts Problematisches dabei ist.» Tatjana Haenni, zuvor viele Jahre Frauenfussball-Zuständige bei der Fifa, ist Präsidentin der Frauen des FC Zürich. Sie macht ähnliche Erfahrungen: «Sobald wir etwas Mädchengerechtes machen, kommen die jungen Frauen.» Allerdings, so Haenni, fehle der «automatische Ablauf»: «Buben gehen tschutten, ob sie Talent haben oder nicht. Bei den Mädchen ist es ganz anders: Da gehen nur die Angefressenen oder eine Gruppe von Freundinnen; die mit Talent muss man richtiggehend suchen und in den Klub holen.»

Vorbilder für Mädchen fehlen

Haenni betont, dass auch die Eltern in der Pflicht seien. «Eltern schicken ihre Töchter kaum je zu körperbetonteren Sportarten wie Fussball oder Unihockey, geschweige denn Eishockey.» Wenn ein Mädchen dann alt genug sei, um sich zu Hause durchzusetzen, habe es oft schon wichtige Jahre verloren.

Auch Vorbilder fehlen. «Die Frauen des FCZ zum Beispiel sind in den Medien praktisch unsichtbar», sagt Tatjana Haenni. Umso mehr hat sie sich letzten Sommer über ein Bild gefreut, das unzählige Zeitungen abdruckten: Ein junger Fussballfan hatte während der Olympischen Spiele das «Neymar Jr.» auf seinem Trikot durchgestrichen. Und «Marta» danebengeschrieben. Das Ganze mit einem roten Herzen verziert für die brasilianische Stürmerin.

Tipps für Eltern

Was, wenn die Tochter partout keine Lust auf Sport hat?

  • Taten überzeugen mehr als Worte: Unternehmen Sie am Wochenende gemeinsam einen Veloausflug oder planen Sie Ferien, in denen Sport Platz hat.
  • Schliessen Sie nicht von sich auf die Kleinen – Ihr Lieblingssport muss nicht derjenige der Kinder sein.
  • Am besten eignet sich ein Verein, den die Tochter allein oder mit Freundinnen, aber ohne «Mama-Taxi» erreichen kann.
Interview: «Ich war immer die Dickste in der Familie»
Die Triathletin Natascha Badmann, 50, ist sechsfache Ironman-Siegerin. Als Mädchen war sie alles andere als sportlich. Erst im Alter von 23 Jahren änderte sich das – dann aber radikal.
Quelle: Miguel Schincariol /AFP / Gettyimages
Beobachter: Sie sagen, Sie seien als Kind nicht so sportlich gewesen. Können Sie sich daran erinnern, woran das lag?
Natascha Badmann: Schwierig zu sagen. Ich war nicht talentiert, nicht gut im Schulsport, und zu Hause wurde auch kein Sport gemacht. Eigentlich kam ich gar nie auf die Idee, Sport zu treiben. Ich war immer die Dickste der Familie. Beobachter: Sie haben in einer Fernsehshow erzählt, Sie hätten diverse Diäten ausprobiert. Wie alt waren Sie da?
Badmann: Da war ich 15 oder 16. Wie gesagt: Ich war die Rundlichste der Familie und hatte eine bildschöne Mama und eine bildschöne Schwester. Ich wollte auch schlank sein und habe tagelang nur Joghurt und Äpfel gegessen – und Ende Woche dann zwei Tafeln Schokolade. Heute weiss ich, dass das nicht gutgehen konnte. Beobachter: Können Sie sich an den Moment erinnern, als Sie  beschlossen, sich mehr zu bewegen?
Badmann: Ja, das war etwa mit 23. Ich lernte meinen heutigen Partner kennen, er sagte zu mir: «Fräulein, wenn Sie abnehmen wollen, dann sollten Sie zuerst einmal essen.» Ich liebte ihn für die Worte. Doch dann sagte er noch: «Und sich ein bisschen bewegen.» Beobachter: Erinnern Sie sich an das Gefühl nach den ersten zehn Minuten Joggen?
Badmann: Ich war mega stolz! Und dieser Stolz hielt an. Ich war ja nur einmal bis zum nächsten Häuserblock und zurück gelaufen. Nur zehn Minuten. Das wäre heute nicht mal ein Training. Aber damals war ich extrem stolz, mich überwunden zu haben. Beobachter: Verstehen Sie Teenager-Mädchen, die sich einfach nicht bewegen wollen?
Badmann: Und ob ich die verstehe! Beobachter: Und welchen Rat würden Sie ihnen geben?
Badmann: Ich würde ihnen sagen: Sport macht schön und glücklich! Sport hält nicht nur die Knochen und die Muskulatur jung, sondern auch die Haut. Es macht nicht immer sofort Spass – aber im Nachhinein war es für mich die Überwindung wert. Sport ist eine Investition ins Leben. Er ist lehrreich und gibt viel zurück, was man oft erst später versteht. Beobachter: Kennen Sie aus eigener Erfahrung etwas, was man nur erlebt, spürt oder geniesst, wenn man Sport macht?
Badmann: Diese Hormone, die durch den Sport freigesetzt werden, sind gar nicht so einfach zu beschreiben. Wenn man ihre Wirkung aber einmal erlebt hat, dann will man sie wieder. Ich bin jeweils völlig glücklich, zufrieden mit mir und der Welt und fühle mich frei. Beobachter: Wenn Sie heute an Ihr Leben ohne Sport zurückdenken: Was geht Ihnen durch den Kopf?
Badmann: Ich war oft sehr traurig und verzweifelt, ich wusste nicht recht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ich gefiel mir nicht. Der Sport hat einen anderen Menschen aus mir gemacht. Auch wenn es manchmal sehr hart war und ich oft das Gefühl hatte, nicht mehr weiterzukommen. Wichtig finde ich, mit sich selbst eine Abmachung zu treffen, zum Beispiel dreimal pro Woche zu trainieren oder in einem Jahr eine bestimmte Anzahl Kilometer zu laufen oder mit dem Rad zu fahren. Erfolg kommt nicht über Nacht. Deshalb sollte man sich mindestens zwei Jahre Zeit geben, bevor man sich überlegt, wieder mit dem Sport aufzuhören. Nach zwei Jahren wird die Bilanz dann ganz sicher so aussehen, dass man nie mehr aufhören möchte.