Bäckerzunft: Grosses Gipfeltreffen auf dem Fliessband
700 Millionen Gipfeli werden in der Schweiz Jahr für Jahr hergestellt. Doch die meisten Teiglinge kommen nicht vom Beck, sondern aus der High-Tech-Fabrik.
Veröffentlicht am 31. Mai 2001 - 00:00 Uhr
Von hier aus soll der ganzen Welt gezeigt werden, wie heute geschäftsbringend gebacken wird. Mitten in der Industrie- und Gewerbezone im aargauischen Lupfig liegt die «Bake-Off-Academy» der Hiestand AG, der führenden Schweizer Herstellerin von Tiefkühlbackwaren. Hauptprodukt: Gipfeli.
In der «Back-Akademie» empfängt die kaufmännische Leiterin und Gastgeberin Mirella Horlbeck Kundschaft und Besucher des Grossbetriebs. Sie steht hinter der schicken Espressobar und offeriert Kaffee, aber auch Wein oder Bier. Perfekt gestylt im schwarzen Kostüm mit rosa Weste, bietet sie diverse Hiestand-Produkte an: «Die süssen kleinen Gipfeli sind ein neues Produkt und ganz besonders fein», flötet sie. Der Vorführraum ist modern eingerichtet: Halogenlampen leuchten hell, und das warme Gelb an den Wänden soll Gemütlichkeit ausstrahlen.
Seit acht Jahren ist Mirella Horlbeck bereits bei Hiestand. Da sie auch für die Personalrekrutierung zuständig ist, kennt sie alle 140 Mitarbeiter in Lupfig beim Namen: «Ich habe ein Händchen für Menschen», sagt die schlanke Dame lächelnd, «und eine gewisse Menschenkenntnis. Wir sind ja ein multikultureller Betrieb, da ist so etwas schon sehr wichtig.»
«Bäckergeselle» im Bankeranzug
Mirella Horlbeck winkt den Jungmanager Michael Schai herbei. «Wir stellen hier jährlich ungefähr zehn Prozent der gesamten Schweizer Gipfeliproduktion her», erklärt der dynamische Mann. Das Rezept dürfe er jedoch nicht verraten – «absolutes Firmengeheimnis». Schai ist seit einem halben Jahr Mitglied der «Hiestand-Familie», als Werbe- und Kommunikationsleiter. In seinem dunklen Anzug mit Krawatte sieht er eher aus wie ein Banker als wie ein Vertreter der Bäckerzunft.
Schai weist den Weg hinab in die Produktionsstätten. Die Besucher müssen die Hände waschen und desinfizieren – Kittel und Hygienehauben, die wie Duschhauben aussehen, werden ausgeteilt. Dann geht es ein paar Meter durch eine japanische Reinigungsanlage, eine Art Schuhsohlenputzband kombiniert mit einer Windschleuse, in der auch das letzte Restchen Staub weggepustet wird.
In der grossen Produktionshalle stehen glänzende Maschinen, Fliessbänder surren ununterbrochen. Ein strenger, süsssaurer Geruch liegt im Raum. Die Arbeiterinnen und Arbeiter tragen Hygienehauben und schwarzweiss karierte Bäckerhosen; die meisten haben weisse Hiestand-T-Shirts an, auf deren Rückseite in acht Sprachen das Wort «Qualität» gedruckt ist. An Durchgangstüren sowie prominent auf dem Tisch im Sitzungszimmer prangen Merkblätter mit der Aufschrift «Qualität: ja, Kompromiss: nein». Alles klar.
384'000 Gipfeli Tag für Tag
Bei Hiestand wird 24 Stunden pro Tag im Schichtbetrieb produziert; nachmittags um drei läuft die zweite Schicht. Stunde für Stunde spuckt die hochtechnisierte «Gipfelistrasse» rund 16'000 Gipfeli aus.
Azwar Isadeen legt die Teigplatten auf das lange Fliessband. In Sri Lanka war er früher Maler, heute nennt er sich «Gipfelibäcker». Er lacht: «Kein Problem.» Etwa zwei Drittel der Hiestand-Angestellten in Lupfig sind ungelernte Arbeiter, die übrigen sind Bäcker, Köche oder Metzger. Erstere sind fast ausnahmslos Ausländer, letztere fast alle Schweizer.
Auf dem Fliessband bewegen sich die Teigplatten durch die Halle; eine Maschine stanzt sie zu handlichen Dreiecken, bevor sie in der Wickelmaschine aufgerollt werden. «Viereinhalb Wickel – ein halber Wickel mehr als üblich», erklärt Betriebsleiter und Bäckermeister Peter Kasimow stolz. In der Biegeeinheit erhalten die Teiglinge mechanisch ihre typische Krümmung, dann greift der Mensch korrigierend ein: Verformte, unschöne Teighörnchen werden von Hand entsorgt. «Länger als eine Stunde steht keiner am selben Posten», beteuert der 41-jährige Kasimow. «Wir haben ein Rotationsprinzip, damit es niemandem zu langweilig wird.»
Diese Feststellung ist ihm wichtig. Kasimow klopft auf sein Portemonnaie in der Hosentasche. Darin hat er, wie fast jeder Mitarbeiter bei Hiestand, das gelbe, visitenkartengrosse Leitbild samt Verhaltenskodex der Firma verstaut. «Wir handeln danach, darum läuft es auch so gut», sagt er. «Nur als Team sind wir wirklich stark», lautet einer der Grundsätze. Oder: «Wir wollen jedes Jahr 20 Prozent wachsen.» Aha. «Corporate Identity» und «Total Quality Management» (Qualitätskontrollsystem) heissen die Schlagwörter, die bei Hiestand bestens umgesetzt werden und für den Erfolg sorgen. Seit 1997 ist die Firma börsenkotiert.
An einer Wand der Fabrikhalle hängen Wimpel und Fahnen des FC Hiestand. Das Emblem zeigt einen Bullen, und die Hörner sind – wie könnte es anders sein – zwei Gipfeli. «Wir sind alle mächtig stolz auf unseren Klub», kommentiert Betriebsleiter Kasimow. Dazu hat der Familienvater mit Schnauz, Goldkettchen und Goldohrring allen Grund. Denn Hiestand ist auch im Firmenfussball top: Im Lauf der letzten Jahre spielte sich der Verein an die Spitze der regionalen Firmenfussballliga und ist derzeit die Nummer eins.
Doch zurück zur Gipfeliproduktion: Nach der Handkorrektur der Teiglinge gehts ab in die Gärspirale. Anschliessend werden die Gipfeli in eine zimmergrosse Gefrieranlage befördert – die so genannte Schockspirale. Dort werden sie auf einem 330 Meter langen, kreisförmigen Fliessband langsam auf minus 20 Grad hinuntergekühlt. «Unser Sibirien», witzelt Kommunikationschef Schai und öffnet kurz die Tür: Eiskalte Luft strömt heraus. Danach gelangen die Gipfeli unterirdisch zum Tiefkühlzentrum und von dort zu den Gastrobetrieben, Bäckereien und Tankstellen.
Morgens um drei schon voll im Teig
Von einer solchen Grossanlage kann der 53-jährige Bäcker- und Konditormeister Peter Märchy nur träumen. Seine kleine Bäckerei liegt im Herzen des Glarner Dorfs Näfels, zwischen Feuerwehrgebäude und Schulhaus. Er beschäftigt in der Backstube seine Zwillingssöhne Roman und Reto, Bäckerin Isabelle Schwitter sowie zwei Lehrtöchter. Im Laden stehen zudem Märchys Frau Monika und abwechselnd einige Aushilfen. Im Bergkanton Glarus gibt es knapp 30 Bäckereien, allein drei in Näfels. «Wir sind die grösste im Dorf», erklärt Peter Märchy. Bereits die vierte Generation wirkt in seinem Geschäft. Bald feiert der Familienbetrieb das 100-jährige Bestehen. Eine kleine Erfolgsgeschichte.
Morgens zwischen drei und halb vier beginnt der Arbeitstag. Draussen ist es noch stockfinster. Als Erster ist Peter Märchy da; er nimmt die Brotteige aus dem Gäromaten, formt die Laiber und stellt den Ofen ein. Um halb sechs wird mit der Gipfeliproduktion begonnen. Auf etwa 330 Stück täglich bringt es Bäcker Märchy mit seinem Team. Bei Hiestand braucht es dafür nicht einmal anderthalb Minuten.
In der kleinen, engen Backstube hinter dem Ladenlokal duftet es nach frischem Brot. Neben dem Backofen hängen Rührbesen an der Wand; überall stehen fahrbare Gestelle voller Bleche mit Backwaren herum. Geschäftig geht es zu und her: Der 23-jährige Roman Märchy bereitet den Gipfeliteig zu – Mehl, Backmittel, Salz, Hefe, Butter und Eier –, Lehrtochter Susan di Marco räumt das frische Brot weg. Mittendrin steht Chef Peter Märchy: Gross, schlank, trainiert, mit kurzen grauen Haaren, erinnert er an einen Schiffskapitän. Er legt hier Hand an, nimmt dort mit der Backschaufel das Maisbrot aus dem Ofen und berät sich kurz mit einem Lieferanten. Dauernd piepst der Backofen, doch trotz konzentrierter Arbeit wird ab und zu auch gelacht. Eine «familiäre Atmosphäre» halt.
«Kürzlich habe ich vergessen, den Gipfeli Hefe beizugeben. Ich habe mich riesig geärgert», gesteht Reto Märchy, äusserlich von seinem Zwillingsbruder nur durch ein Rossschwänzchen zu unterscheiden. «Wir sind schliesslich alle nur Menschen», meint sein Vater beschwichtigend, «das kann halt mal passieren.» Aber auf ihre Gipfeli sind die Märchys schon stolz. Das sei eben noch echte Handarbeit: «Ein richtiger Beck macht seine Gipfeli selber. Oder besser: wer etwas auf sich hält. Punkt», sagt der Senior bestimmt. Bäckerehrenwort.
In der Bäckerei Märchy trägt keiner eine Hygienehaube, aber als gelernte Bäcker stecken alle in schwarzweiss karierten Hosen. Trotzdem ist auch hier alles ganz sauber – mit einem Unterschied: Es sieht nicht so klinisch aus wie in Lupfig. Gemeinsam mit der Bäckerin Isabelle Schwitter, 27, rollen Reto und Roman den gekühlten Gipfeliteig vom Vortag, stechen mit der Dreieckwalze von Hand Formen aus, stellen sie kühl und wickeln das Gebäck in der Gipfelirollmaschine auf. Ein bisschen maschinelle Arbeit muss sein, aber die charakteristische Krümmung erhalten die Gipfel von Hand: Unglaublich schnell verwandeln sich gerade Röllchen zu krummen Hörnchen. Kurz nach sechs Uhr ist es dann endlich so weit: Herrlicher Gipfeliduft durchströmt die Backstube.
Ein Buttergipfeli kostet im Laden einen Franken – der Gewinn pro Gipfel beträgt 20 Rappen; davon kann kein Bäcker leben. Bei Peter Märchy tragen die Gipfeli bloss etwas mehr als ein Prozent zum Jahresumsatz bei. Dennoch würde Bäcker Märchy niemals darauf verzichten: «Wir haben eine ganz eigene Gipfeliqualität und sind stolz darauf, keine Massenware zu verkaufen.» In Näfels herrsche ein reger Dörfli- und Regiönligeist, sagt der Chef. Wirte und Hoteliers kauften gern bei ihm, weil sie wüssten, dass er dann auch mal bei ihnen zu Abend esse.
Vieles beruht im Glarner Dorf auf gegenseitigen Geschäften. Märchy etwa kauft seine Fleischfüllung für die Wurstweggen beim lokalen Metzger, obwohl ihn die Ware bei Pistor, der Einkaufsgenossenschaft der Bäckereien, viel billiger käme. «Dafür kauft der Metzger aber seine Bürli bei mir», erklärt er schmunzelnd.
Infiziert vom «Bäckervirus»
Bäckermeister Märchy denkt als Familienmensch; ihm ist wichtig, dass sein Geschäft in der Familie bleibt. Er kurvte bereits als kleiner Junge mit dem Trottinett durch das grosselterliche Bäckereigeschäft und infizierte sich dabei mit dem «Bäckervirus». «Eigenständigkeit ist absolut wichtig für uns», meint er. Darum drängt er auch seine Söhne nicht, möglichst schnell die Meisterprüfung zu machen. Er lässt ihnen Zeit für ihr Hobby, die Musik.
Der Bäckerarbeitstag endet zwischen elf und zwölf Uhr. Dann wird zwei, drei Stunden geschlafen – und nach dem Abendessen gehen Gitarrist und Sänger Roman und Schlagzeuger Reto in den Übungsraum. Ihre Rockband «Nice» ist im ganzen Glarnerland bekannt.
Ganz anders klingts im aargauischen Lupfig. Marketingexperte Michael Schai lässt den Hiestand-Firmensong laufen. «Never let steal your dream» (Lass dir nie deinen Traum stehlen), lautet der Refrain des süsslichen Popsongs in holprigem Englisch. Das ist das Credo von Firmengründer Alfred Hiestand. Bereits als kleiner Junge hegte er den Bäckertraum. Und er schaffte es: Aus seiner kleinen Backstube in einer ausgedienten Wäscherei wurde ein internationaler Grosskonzern, der ständig expandiert und den Aktienkurs steigert. Sehr zur Freude der Shareholder.
Reine Gewinnmaximierung ist nicht das Ding von Peter Märchy. Er mag Hiestand den geschäftlichen Erfolg gönnen. Allergisch reagiert er nur, wenn auswärtige Kunden fragen: «Ist das frisch?» Das ist nun wirklich eine Beleidigung für seine Bäckerseele. Er kann ja auch mit reinem Gewissen sagen: «Alles selbst gemacht!»