«Was zum Teufel mache ich eigentlich hier?» Wie ein blinder Passagier heftet sich die Frage an die Fersen der Reisenden, um sich in den Momenten bemerkbar zu machen, wo Mut plötzlich in Verzweiflung umschlägt. Wer aufbricht, gibt Sicherheit auf.

Bei Monika Gut (35) war es auf Hawaii so weit: Nirgendwo sind die Nächte schwärzer als auf der tropischen Insel. Monika lag auf einer schmalen Pritsche in einem Bretterverschlag, in dem es nach Hund stank, und starrte in die Dunkelheit. Das Flugzeug, das sie und ihren Mann Ariel Leuenberger (36) von Tokio nach Kona gebracht hatte, war erst vor ein paar Stunden gelandet, die innere Uhr tickte noch immer japanisch – verdammter Jetlag!

Diane, eine quirlige Aussteigerin aus New York, hatte das Paar vom Flughafen direkt in den Dschungel gebracht. Dort sah es aus wie in einem chaotischen Kinderzimmer, nur ohne das Liebliche, das solche Orte erträglich macht. Die nächsten zwei Monate würde man auf Dianes Farm arbeiten. Kaffee pflücken, Macadamianüsse ernten, für Kost und Logis.

Bittere Tränen auf Hawaii

In der Heimat war Monika Gut Texterin und Dozentin, Ariel Leuenberger arbeitete in der Kommunikation für die Caritas. Die beiden freuten sich auf die neue Aufgabe. Etwas mit den Händen machen, statt immer nur denken. Aber hier leben, an diesem dreckigen Ort, ohne Strom und fliessendes Wasser? «Vielleicht sieht es am Tag ja besser aus», sagte Ariel, der auch nicht schlafen konnte. Monika schwieg. Auf der anderen Seite der dünnen Holzwand schnarchte ein Plantagenarbeiter. Sie wollte nicht, dass er durch ihr Schluchzen geweckt würde.

Die Liebesgeschichte von Monika und Ariel beginnt vor zwölf Jahren, als beide in Winterthur Journalismus studierten. Sie, eine Draufgängerin aus der Zentralschweiz, findet die zurückhaltende Art des Thuners «mit dem schönsten aller Dialekte» extrem anziehend. Nach einer Party, man tanzte zu einer Ballade aus «Dirty Dancing», entscheidet Monika, dass sie für immer mit Ariel zusammen sein würde. Er sieht das nach einigen Wochen genauso. Es passt ja auch: Man teilt das Flair für Sprache und leidet gleichermassen an Fernweh. Auf den gemeinsamen Reisen fällt zum Schluss stets der gleiche Satz: «Irgendwann gehen wir für länger.»

Eine ausgedehnte Hochzeitsreise

Im Januar 2015 wird aus dem Traum Wirklichkeit: Sie heiraten, eine ausgedehnte Hochzeitsreise kann man den Eltern besser erklären als zwei Jahre Ferien. Das Fest findet fünf Tage vor dem Abflug nach Bangkok statt, die Tränen fliessen erst am Gate.

Als vor dem Fenster des Airbus die nebelverhangenen Hügel Myanmars auftauchen, sagt Monika zu Ariel: «Jetzt fängt unser neues Leben an.» Zurück liegen Wochen voller Emotionen und Bürokratie. Sie verabschiedeten sich von ihren Lieben und meldeten sich im Stadthaus ab. Sie fanden eine Krankenkasse in Deutschland, die sie im Ausland versichern würde, eröffneten ein Freizügigkeitskonto, verstauten ihren Hausrat im Keller und übergaben die Schlüssel der gemeinsamen Wohnung dem neuen Untermieter.

Moni

Monika Gut

Monika Gut: «Jetzt fängt unser neues Leben an.»

Quelle: Ariel Leuenberger

Die feuchtwarme Wand, die Ankommende in Thailand zur Begrüssung abklatscht, fühlt sich für Monika und Ariel an wie der Vorhang zu einer Welt voller Abenteuer. Keine To-do-Listen mehr, so viel Zeit und so wenig Pläne. Was machen wir heute? Das Wetter ist ja sowieso gut. 

Die Farm auf Hawaii sah auch bei Tageslicht nicht besser aus: eine chaotische Finca, schmuddelig und zugemüllt, mit zweifelhaften Gestalten, die auf einem staubigen Flecken neben dem Bretterverschlag campierten. Ein Dutzend Leute teilte sich einen Hotelkühlschrank, der überquoll von schimmligen Esswaren. Eine Dusche gab es nicht. 

Nichts wie weg hier!

Monika und Ariel schulterten ihre ungeöffneten Rucksäcke und teilten der New Yorkerin mit, dass sie nicht bleiben würden. «There’s the driveway», sagte Diane, dort sei die Strasse. Was nun? Ohne Job konnten sich die beiden das Leben im teuren Land nicht leisten, das nächste Dorf lag Meilen entfernt, über dem heissen Asphalt flirrte die Luft. 

Nach einer halben Stunde hielt ein Wagen, darin ein älterer Mann mit verspiegelter Sonnenbrille: «Sucht ihr etwas?» Maika war die letzten fünf Jahre Gärtner gewesen, jetzt wollte er die Insel verlassen. Er gab Monika und Ariel eine Visitenkarte von Barbara, die in der Nähe von Kona einen botanischen Garten betrieb, das Paleaku Peace Sanctuary. 

«Wir hatten keine Ahnung vom Gärtnern. Jede Pflanze musste man uns erklären.»

Monika Gut

«Wir hatten das Paradies gefunden»

Schon am nächsten Morgen traten die Schweizer zum Jäten an. Sie lernten, welche Pflanzen giftig sind und welche pieksen, was weg muss und was bleiben darf. Zur Stärkung zwischendurch gab es üppige Früchte, die überall von den Ästen hingen, gewohnt wurde in einem kleinen Haus unter Palmen. «Unverhofft hatten wir das Paradies gefunden», sagt Monika. Im knapp drei Hektaren grossen Garten hatte man vor einiger Zeit Relikte der polynesischen Ureinwohner entdeckt, Barbara verstand sich als Auserwählte, die dieses Erbe schützen musste. In Monika und Ariel sah sie ein Geschenk des Himmels. Und ihre neuen Gärtner versöhnten sich an diesem Kraftort mit Hawaii.

Mit Ferien, in denen man alles vergisst, wirbt ein bekannter Reiseveranstalter. Was für Werktätige mit zwei Wochen Sommerferien im Jahr verlockend klingen mag, birgt für Langzeitreisende eine Gefahr: Irgendwann droht man sich selbst zu verlieren. «Wenn man nur noch entscheidet, wo man schläft, wo man isst und was man sonst noch konsumiert, fühlt man sich eines Tages nicht mehr gebraucht», sagt Monika. 

Manch ein Reisender strandet

Nach den ersten Wochen, in denen Monika und Ariel im Backpacker-Dreieck Thailand, Laos und Myanmar keinen Strand und keinen Tempel ausgelassen hatten, wurde klar, dass ihre Energiereserven im Ferienmodus keine zwei Kontinente weit reichen würden. 

Auf abschreckende Beispiele trafen sie zur Genüge: hängen gebliebene Taucher auf thailändischen Inseln, abgelöschte Expats in verrauchten Bars in Phnom Penh. Damit Seele und Selbstbewusstsein nicht verkümmerten, waren Rituale und Beschäftigungen nötig. Er fotografierte, sie schlenderte über exotische Märkte. Sie gönnten sich Pausen vom Sightseeing, machten mal nichts oder texteten als Freelancer für Schweizer Firmen. Wer so lange reisen will, erkannten sie bald, braucht vor allem eins: Alltag.

In Japan bestand dieser sechs Wochen lang aus Putzen. Über die Online-Plattform Workaway, auf der sich digitale und analoge Nomaden für Jobs auf der ganzen Welt bewerben können, lernten Monika und Ariel die Betreiber einer Pension im Fischerstädtchen Shimoda kennen. Er reinigte täglich fünf Stunden lang das einfache Gästehaus Tabi-Tabi, sie das etwas elegantere Hotel Wabi-Sabi. Dafür gab es je 500 Yen – zusammen knapp neun Franken – für Reis und Gemüse und kostenlos eine Tatami-Matte zum Übernachten. Nach einem längeren Aufenthalt im futuristisch-verrückten Tokio kam die bodenständige Tätigkeit gerade richtig.

«Wenn japanische Gäste abreisen, sieht man es dem Zimmer nicht an, dass sie überhaupt da waren.»

Ariel Leuenberger

Die japanische Gründlichkeit erforderte es, dass sie die Fussböden in den Gästezimmern mit Fusselrollern vom Staub befreiten. Der Gurt für die Bademäntel musste im Origami-Verfahren gefaltet werden, über die korrekte Platzierung eines Kissens konnte man mit Chef Yasu einen ganzen Nachmittag lang philosophieren. Die Checkliste, die Monika und Ariel am ersten Tag in die Hand gedrückt bekamen, umfasste zwölf Seiten. Wenn Yasu etwas nicht ganz passte, zündete er sich vor dem Guesthouse eine Zigarette an. Man habe ihn in dieser Zeit oft rauchen sehen, sagt Monika. Die Abende verbrachten die beiden am Strand, auf Spaziergängen durch den nahen Urwald oder beim Sake mit den Einheimischen vor deren Hütten.

Die Reiseroute von Monika und Ariel führte über Asien nach Süd- und Nordamerika. 22 Länder in 27 Monaten. Wo die Lebenskosten hoch waren, suchten sie sich eine Arbeit für Kost und Logis. In günstigeren Regionen oder wenn das heimwehgeplagte Gemüt wieder einmal nach einem Frühstücksbuffet und einem Swimmingpool verlangte, leisteten sie sich den Komfort eines Hotelzimmers. Insgesamt haben Monika und Ariel 70000 Franken ausgegeben. Das ist weniger, als sie zuvor auf die Seite gelegt hatten. Sie sei ein «Sicherheitsmensch», sagt Monika, «es hätte mich gestresst, wenn wir mit null Franken auf dem Konto zurückgekehrt wären». 

Vor der Abreise hatten sie sich geschworen: Wenn es nicht klappt, brechen wir ab. Und es gab diese Momente, in denen der Zweifel besonders ausgeprägt war, sich schlechtes Gewissen breitmachte. Ariels Grossmütter sind beide während seiner Abwesenheit gestorben, Monikas Schwester hat ein Kind geboren. «Und wir sitzen da und verschicken das nächste Strandfoto.» Wenn man so lange ständig nur zu zweit ist, muss man zwangsläufig in Rollen schlüpfen, für die in der Heimat Freunde oder Familie zuständig sind: der verständnisvolle Vater, die beste Freundin.

Mit der Enge klarkommen, der fehlenden Privatsphäre, und dabei achtgeben, dass Belanglosigkeiten die Beziehung nicht vergiften, darauf kommt es an. «Wir haben ein Jahr lang jede Nacht im gleichen Zimmer geschlafen», sagt Monika, da habe man bald keine Geheimnisse mehr. «Ich finde es manchmal schön, Monika zu vermissen», sagt Ariel. In Ecuador trennte sich das Paar für ein paar Tage. Er blieb in Quito, sie reiste schon weiter nach Kolumbien. «Wir wollten herausfinden, ob das überhaupt noch geht», sagt Monika. 

«Das Alleinsein verlernt»

Früher sei sie oft drei Monate oder länger allein unterwegs gewesen, ohne Probleme. «Doch jetzt fehlte Ariel überall.» Sie hatte keine Lust aufs Pläneschmieden, es fehlte an Motivation, sich am Abend irgendwo in eine Bar zu setzen und Leute kennenzulernen. «Ich hatte das Alleinsein verlernt», sagt Monika. 

«Eine kleine Reise ist genug, um uns und die Welt zu erneuern», schrieb der französische Schriftsteller Marcel Proust. Die Beziehung verändert sich, das Vertrauen wächst. Damit sie überlebt, braucht es neben dem Alltag auch Abstand. «Wir haben versucht, wieder mehr Eigenständigkeit in unsere Beziehung zu bringen», sagt Ariel. Manchmal reichen kleine Dinge. Etwa, dass man nur noch an Orten übernachtet, wo es eine Tür vor dem WC hat.

Grosse Erwartungen

Ausgerechnet als die Erwartungen am grössten waren, folgte der Tiefpunkt der Reise. Monika und Ariel waren in Kolumbien und erwarteten Familie und Freunde aus der Heimat. «Der Stresslevel war sehr hoch», erinnert sich Monika. Sie lebten schon seit einiger Zeit hier, und jetzt sollte bald Besuch kommen, der primär etwas erleben wollte.

In einem unachtsamen Moment stolperte sie über eine Steintreppe und verletzte sich an der Schulter. Nach langer Warterei in der Notfallaufnahme des Spitals von Santa Marta riet ihr der übernächtigte Arzt, eine simple Schlinge zu tragen. Aber was genau los war mit ihrer Schulter, das hat sie nie erfahren. 

Der Rückschlag sollte Monika aber nicht daran hindern, am zehnwöchigen Ferienprogramm mit Eltern und Freunden teilzunehmen. Schliesslich hatte sie sich schon viel zu lange auf diese Zeit gefreut. Und so fand man sich bald zu viert auf einer Nussschale im Golf von Urabá wieder, dessen Überquerung man sich zum Ziel gesetzt hatte. Vorne im Bug des Boots grunzte ein verängstigtes Schwein, die Wellen waren haushoch und die Gesichter der anderen Touristen kreideweiss. 

Um Monikas lädierte Schulter zu schonen, hatte Ariel eine ganze Rolle Tape um seine Frau gewickelt. Aber es half nichts: Die Schmerzen wurden mit jedem Aufklatschen des Boots auf dem Wasser stärker. Nach der Überfahrt benötigte Monika dringend Ferien von den Ferien – und der Bauer ein neues Schwein.

Wie übersteht man als Paar eine zweijährige Weltreise? Mit der Gewissheit, dass man sich jederzeit auf den anderen verlassen kann. Und der unbedingten Bereitschaft, Neues kennenlernen zu wollen, auch am Partner. Sie überraschte ihn mit ihrem hartnäckigen Verhandlungsgeschick, er sie mit der stoischen Ruhe, die ihn selbst in den brenzligsten Situationen nie verliess. Wichtig sei auch, das Schweigen aushalten zu können, sagt Monika: «Nicht das Gefühl zu haben, man müsse sich die ganze Zeit unterhalten.» Es habe keinen Morgen gegeben, sagt Ariel, an dem sie sich nicht hätten sagen können: «Egal, was kommt, wir haben es gut. Gemeinsam schaffen wir das.»

Die Dogsitter von Beverly Hills

Monika und Ariel unterrichteten Kambodschaner in Public Relations, sie verbrachten zehn Tage schweigend und meditierend in einem Kloster in Japan, schauten in einem Hotel im mexikanischen Urwald von Yucatán zum Rechten und hüteten den Hund einer Filmproduzentin in Beverly Hills. Sie haben gemacht, wovon viele träumen: einfach losziehen.

Seit sie zurück sind in Zürich-Wollishofen, zelebrieren sie all die Dinge, die sie in den zwei Jahren vermisst haben. Sie trinken Tee aus Grossmutters Porzellan, essen Käse und treffen abends Freunde am See. Sie freuen sich über die kühle Luft und die Abwesenheit von Klimaanlagen. «So richtig angekommen sind wir aber noch nicht», sagt Ariel. Die grosse Leere, die komme vermutlich später.

Den Sommer, da sind sich die beiden einig, werden sie in Zürich verbringen. Der Winter aber, der werde gefährlich, sagt Monika: «Wenn die Füsse kalt werden, zieht es mich automatisch fort.» Doch Ariel hat für dieses Jahr ein Reiseverbot ausgesprochen – das war bereits beim Anflug auf Zürich. Weit unten haben sie die Felder und Dörfer gesehen, die so aufgeräumt wirkten wie ihre akribisch gepackten Rucksäcke. Zweifel gabs da keinen mehr: Hier gehörten sie hin.

Den Weltreiseblog von Monika Gut und Ariel Leuenberger gibts auf guterleu.com