Sie sei wirklich «positiv erstaunt», sagt Corinne Strebel, Leiterin des Beobachter-Beratungszentrums und Expertin für Sozialhilfe. Dass die Sozialhilfequote sinken würde, habe niemand erwartet. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) ging in ihrem Analysepapier zu den Nachwirkungen der Corona-Pandemie von einem starken Anstieg aus.

Das Gegenteil ist der Fall, die Sozialhilfequote sank 2022 um 0,2 Prozentpunkte auf 2,9 Prozent der Bevölkerung. Das ist der tiefste Wert seit Einführung der Sozialhilfestatistik im Jahr 2005; nur 2008 war die Quote schon einmal genauso tief. Letztes Jahr bezogen in der Schweiz 256’800 Personen mindestens einmal eine finanzielle Leistung der wirtschaftlichen Sozialhilfe, 8300 weniger als im Jahr davor. 

Nur in zwei Kantonen, Jura und Schaffhausen, stieg die Quote. In 14 Kantonen hingegen nahm sie ab, in den restlichen blieb sie gleich. Auch in den bevölkerungsmässig grössten Kantonen Bern und Zürich bezogen weniger Menschen Sozialhilfe. Wie ist das zu erklären?

Corinne Strebel sagt: «Der Wirtschaft geht es gut, deshalb nimmt die Arbeitslosigkeit ab. Auch weniger gut qualifizierte Arbeitskräfte finden zurzeit eine Stelle.» Das habe direkte Auswirkungen auf die Sozialhilfe. Zudem hätten sich die Massnahmen des Bundes und der Kantone zur Bekämpfung der Covid-Auswirkungen bewährt. Kurzarbeitsentschädigung und Covid-Kredite an Firmen hätten vieles aufgefangen.

«Wenn die Wirtschaft weiterhin brummt, hoffe ich sehr, dass die Sozialhilfequote auf diesem tiefen Niveau bleibt», sagt Corinne Strebel. Doch die Risikofaktoren wie geringe Bildung und die Asylproblematik bleiben. Am meisten betroffen von Armut sind nach wie vor Minderjährige (4,8 Prozent), Ausländerinnen und Ausländer (5,9 Prozent) sowie Geschiedene (4,5 Prozent).

Die offiziellen Zahlen des Bundesamts für Statistik sind allerdings mit Vorsicht zu geniessen. Denn die Dunkelziffer ist hoch. Viele, die am Existenzminimum leben, melden sich aus Scham oder anderen Gründen nicht beim Sozialamt. Laut Studien beantragen zum Beispiel in der Stadt Basel knapp 30 Prozent der Personen, die ein Anrecht auf Sozialhilfe hätten, diese gar nicht. Im Kanton Bern lag der Anteil in ländlichen Regionen gar bei 50 Prozent. Auch die Verschärfung des Ausländergesetzes liess die Zahl der Anträge sinken – denn wer ohne Schweizer Pass Sozialhilfe bezieht, muss mit dem Entzug des Aufenthaltsrechts rechnen. Viele ausländische Bedürftige verzichten deshalb auf Sozialhilfeleistungen. «Das merken wir auch am Beratungstelefon», sagt Expertin Strebel. Viele Betroffene empfänden es zudem als Stigma, Sozialhilfe zu beantragen, deshalb würden sie darauf verzichten.