Ihre Mama rasierte ihr an einem Sonntag zum ersten Mal die Haare. Daran erinnert sich Sarah Meier* noch genau. Das war vor fünf Jahren. Am nächsten Tag musste die 16-Jährige vor versammelter Klasse einen Vortrag über ihren Traumberuf Fachangestellte Gesundheit halten. Auch ihr Schwarm würde dabei sein. Eigentlich hatte sie sich gefreut, sich gut vorbereitet. Doch nun sah alles anders aus: «Ich lag die ganze Nacht wach und weinte. Ich schämte mich so.»

Bis zu diesem Tag hat Sarah immer eine coole Mütze getragen. Keiner sollte sehen, dass immer mehr Haare fehlten. Mit einem Loch hatte es angefangen. Sarah wusste damals noch nicht, dass sie mit dem kreisrunden Haarausfall würde leben müssen.

Beim kreisrunden Haarausfall (Alopecia areata) fallen Betroffenen aus heiterem Himmel und oft über Nacht oder über ein paar Tage verteilt die Haare aus. Büschelweise. Zurück bleiben kahle Kreise auf der Kopfhaut. Ein Anblick zum Gruseln. Und bei manchen Leidtragenden bleibt es nicht bei einem Kreis. Einige verlieren ihr gesamtes Haupthaar. Auch die Brauen, Wimpern und die weniger schönen Nasenhärchen. Selten verliert jemand alle Körperhaare. Aber zuweilen sind die Fingernägel rau wie Sandpapier, durchsetzt von Rillen oder Grübchen.

Rund ein Prozent der Bevölkerung kämpft irgendwann mit kreisrundem Haarausfall. Das klingt nach wenig. Doch die Zahlen zeigen: Jährlich trifft es einen von 5000 Menschen. Viele sind jung, viele jünger als 20. 

Katharina Bracher war 30, als ihr Coiffeur sie auf den fünflibergrossen Kreis an ihrem Hinterkopf hinwies. «Ich fiel aus allen Wolken», erinnert sich die heute 35-Jährige. Der Coiffeur riet ihr, nichts zu machen. Die Haare kämen von alleine wieder. Katharina beruhigte das gar nicht. Aufgewühlt fuhr sie nach Hause und zeigte ihrer Mitbewohnerin die Entdeckung.

«Ich hatte Angst, alle Haare zu verlieren.» Eine Katastrophe, zumal ihre dicke Haarpracht ihr Markenzeichen ist. «Damals habe ich realisiert, wie wichtig mir meine Haare sind. Mit dem Loch fühlte ich mich hässlich.»

Der Dermatologe Pierre de Viragh kennt das gut: «Am meisten leiden Frauen und Kinder nach der Diagnose.» Männer könnten sich besser damit abfinden, im schlimmsten Fall den Kopf zu rasieren. Aber so weit muss es nicht kommen. De Viragh stösst sich an der Aussage des Coiffeurs, dass man nichts machen solle. «Das ist falsch und unfair, weil man zu viel Zeit verliert.» 

Die besten Heilungschancen hätten Betroffene, wenn sie innerhalb der ersten zwei Jahre zum Arzt gehen. Es gebe aber auch Betroffene, die fünf Jahre oder länger warteten. «Da mache ich keine Therapie mehr. Die Erfolgschancen sind dann zu schlecht.»

Helfen kann laut dem Spezialisten eine Immunsuppression. Mit dieser Therapie wird versucht, die Reaktionen des Immunsystems zu stoppen. Beim kreisrunden Haarausfall handelt es sich um eine Fehlreaktion des körpereigenen Immunsystems. Statt gefährliche Viren und Bakterien zu bekämpfen, richten sich die Abwehrzellen plötzlich gegen die körpereigenen Haare und lösen dort eine Entzündung aus. Die Folge: Die Haarwurzel fällt in eine Ruhephase.

Bei einem Drittel der Leidtragenden erholen sich die Haarwurzeln von alleine wieder, und es kommt zur Spontanheilung. Alle anderen kommen ohne Therapie nicht weiter. Doch eine Standardtherapie gibt es nicht. In diversen Studien wurde die Wirksamkeit von immunschwächenden Substanzen oder Entzündungshemmern getestet, wozu auch Kortison gehört. Auch Lasertherapien wurden untersucht. In schweren Fällen greifen die Ärzte zu einer noch extremeren Methode. Ein chemischer Wirkstoff wird direkt auf die Kopfhaut aufgetragen. Dieser löst ein Ekzem aus, das die Abwehrzellen von den entzündeten Haarwurzeln weg zur Kopfhaut lenkt. 

Sarah Meier suchte mit ihrer Mutter zuerst verschiedene Ärzte auf, auch ein Dermatologe war darunter. Dann versuchte sie es mit alternativen Mitteln. Auch das half nicht. «Am Ende war ich so verzweifelt, dass wir zur Psychologin gingen.» Ihre Mutter hatte gelesen, dass Stress kreisrunden Haarausfall auslösen könne. «Die Therapiestunden halfen mir sehr. Aber den Haarausfall wurde ich nicht los.» 

Stress. Wenn Katharina Bracher zurückblickt, bestand genau daraus ihr Leben. Sie habe versucht, ihrem neuen Job gerecht zu werden, der zehn Schuhnummern zu gross gewesen sei. «Mich plagten permanent Versagensängste», sagt die Journalistin. Hinzu kam, dass sie für die neue Stelle in eine andere Stadt pendeln musste. Auch Mobbing war ein Thema: Nicht alle neuen Kollegen kamen damit klar, dass eine weniger Erfahrene den gleichen Job machte. «Bei mir war der psychische Stress der Auslöser für meinen Haarausfall.»

Laut de Viragh ist Stress wegen eines Trauerfalls, einer Scheidung oder Mobbing bei manchen Betroffenen tatsächlich der Auslöser. Er wehrt sich jedoch gegen eine Pauschalisierung. Zahlreiche Studien haben versucht, der Ursache auf die Spur zu kommen. Bislang vergeblich. «Man weiss bis heute nicht, was die Erkrankung auslöst.» Bei den meisten sei es nicht Stress oder ein anderes psychisches Problem. «Sehr wahrscheinlich ist, dass der Auslöser von Patient zu Patient unterschiedlich ist.»

Bracher erholte sich nach vier Monaten ohne Therapie. «Als ich bereit war, den Job zu verlieren und alles nicht mehr so ernst zu nehmen, fiel ein riesiger Druck ab. Nicht lange danach begannen die Haare wieder zu spriessen.» 

Anders bei Sarah Meier. Für sie gibt es bis heute keine Hoffnung. «Früher habe ich mich oft gefragt, was ich hätte anders machen können. Anders essen, mehr Sport. Jetzt weiss ich, dass es nicht meine Schuld ist», sagt sie. «Ich habe mich damit abgefunden.» Sie trägt eine Perücke mit braunen langen Echthaaren. Wie sie sie früher hatte.

So lindern Sie Ihr Leiden

  • Werden Sie aktiv. Gehen Sie erst einmal zum Arzt. Nichts tun ist keine Lösung.
  • Wenn Sie das Gefühl haben, der Haarausfall hänge mit Ihrem Stress am Arbeitsplatz zusammen, suchen Sie das Gespräch mit dem Vorgesetzten und klären Sie ihn über Ihr Leiden auf. Das Gleiche gilt bei Konflikten in der Familie oder im Freundeskreis.
  • Zink kann gegebenenfalls Abhilfe schaffen. Es schwächt eine überschiessende Reaktion des Immunsystems ab. Achten Sie daher auf eine zinkreiche Ernährung oder unterstützen Sie Ihren Körper durch Zinkpräparate. Aber: Besprechen Sie dies vorher mit Ihrem Arzt.
  • Falls die Verzweiflung über den Verlust der Haare nicht nachlässt, suchen Sie sich fachliche Hilfe. Aus der Trauer kann sich eine Depression entwickeln.