Im Juni hat der Nationalrat das Asylgesetz verschärft. Die Linke konnte dabei nur einen kleinen Sieg davontragen: Sie verhinderte, dass das Familienasyl gestrichen wird. Kinder von Flüchtlingen sollen demnach auch künftig automatisch anerkannt werden. Eine Garantie dafür, dass Flüchtlingsfamilien generell zusammenbleiben können, ist das aber nicht.

Das muss derzeit Suradj Ahmadi erfahren. Kerzengerade sitzt der 22-jährige Afghane zu Hause auf dem Sofa und starrt ins Leere. «Jeder Tag ist lang wie ein Monat», sagt er mit leiser Stimme. Seit drei Jahren ist er in der Schweiz, hat Deutsch, Französisch und Englisch gelernt und als Portier im Basler Hotel Euler seinen Lebensunterhalt verdient. Hoteldirektor Daniel Fankhauser lobt ihn in höchsten Tönen: «Er ist ein flotter, loyaler, sehr arbeitsamer junger Mann, der sich sehr schnell integriert hat.»

Nun sitzt dieser arbeitsame junge Mann untätig daheim und wartet auf den Tag X. Arbeiten darf er nicht mehr. Das Bundesamt für Migration (BFM) hat sein Asylgesuch abgelehnt und entschieden, dass er zurückmuss nach Herat im Westen Afghanistans. Ahmadis Beschwerde und ein späteres Revisionsgesuch wurden vom Bundesverwaltungsgericht abgewiesen, endgültig im März 2012.

50-jähriger Polizist begehrte 14-Jährige

Suradj Ahmadi muss zurück – als Einziger seiner Familie. Der Grund: Sein Asylantrag wurde separat behandelt, weil er volljährig ist. Denn das Asylgesetz fasst den Begriff Familie sehr eng: Nur minderjährige Kinder zählen dazu. Während Ahmadis Eltern und seine drei jüngeren Geschwister vorläufig in der Schweiz aufgenommen wurden, weil eine Rückkehr nicht zumutbar sei, wird er weggewiesen.

Nun hätte man trotz separatem Asylgesuch zum Schluss kommen können, dass eine Rückkehr auch für den ältesten Sohn nicht zumutbar ist – schliesslich sind die Bedingungen dieselben. Doch die Behörden sahen das anders. In Herat könne nicht von einer konkreten Gefährdung der ganzen Bevölkerung ausgegangen werden, heisst es im BFM-Entscheid. Ausserdem gebe es «keine individuellen Gründe», die gegen eine Wegweisung sprächen.

Beachtet man aber die Umstände von Suradj Ahmadis Flucht, müsste man eigentlich zum gegenteiligen Fazit kommen. Nichts deutet darauf hin, dass er in der Heimat weniger gefährdet wäre als die übrige Familie. Die Ahmadis besassen in Herat ein Haus und handelten mit Autopneus; Suradj arbeitete mit dem Vater im Geschäft.

Dann, Anfang 2009, warf ein mächtiger lokaler Polizeichef ein Auge auf die damals 14-jährige Tochter Faranaz. Der 50-jährige Mann wollte das hübsche Mädchen heiraten, doch die Eltern lehnten ab. Das liess der Verschmähte nicht auf sich sitzen. Er bedrohte die Familie, entführte den zweitältesten Sohn, hielt ihn drei Tage lang fest und steckte am Ende einen Verkaufscontainer der Ahmadis in Brand. Zum Schein stimmten die Eltern der Heirat schliesslich zu, gewannen auf diese Weise Zeit und flohen auf dem Landweg via Griechenland in die Schweiz. Nach ihrer Ankunft wurde die Familie dem Kanton Basel-Landschaft zugeteilt. Man fand für sie eine Dreizimmerwohnung in Diegten. Das BFM erachtete die Geschichte der Ahmadis als glaubhaft. Weil es sich aber um eine private Fehde und nicht um eine politische Verfolgung handelte, wies das Amt im Januar 2010 das Asylgesuch der Eltern und der drei minderjährigen Geschwister ab. Doch «in Würdigung sämtlicher Umstände» erachtete es eine Rückkehr in die Heimat als nicht zumutbar.

Im Fall von Suradj Ahmadi dagegen verwies das Bundesverwaltungsgericht darauf, dass er in Herat Verwandte habe und somit über ein tragfähiges Beziehungsnetz verfüge. Dies, obwohl er das Gegenteil beweisen konnte: Eine Mitarbeiterin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) hatte schriftlich bestätigt, dass die Verwandten längst selber vor dem Polizeichef fliehen mussten und in einem Flüchtlingslager im benachbarten Iran leben.

Doch das Gericht hielt die Belege des IKRK für nicht authentisch. «So etwas habe ich noch nie erlebt», wundert sich Ahmadis Anwalt, der Migrationsspezialist Guido Ehrler. «Ich frage mich, wie man darauf kommt, dass eine schriftliche Bestätigung durch das Rote Kreuz nicht glaubwürdig sein soll.»

Wegweisung muss vollzogen werden

Antworten bleiben die Behörden auch dem Beobachter schuldig. Weder das BFM noch das Bundesverwaltungsgericht wollen den Fall kommentieren. Man nehme grundsätzlich nicht Stellung zu Einzelfällen, heisst es nur. Fest steht: Wäre Suradj Ahmadi noch nicht 18 Jahre alt gewesen, wäre er wie seine Familie vorläufig aufgenommen worden. Der eng gefasste Familienbegriff führt nun faktisch dazu, dass der älteste Sohn direkt in die Arme des Polizeichefs getrieben wird. Die Mutter findet keinen Schlaf mehr.

Nachbarn, Freunde, Bekannte und die Lehrer der Geschwister reichten eine Petition gegen die Ausweisung von Suradj Ahmadi und die Familientrennung ein. «Diese Beamten kennen nur einen Namen und eine Adresse. Aber für uns ist Suradj ein Mensch», sagt sein früherer Chef, Hoteldirektor Fankhauser. Für seine Familie spielt er zudem eine wichtige Vermittlerrolle, etwa als Übersetzer bei Arztbesuchen oder bei der Einschulung seiner Geschwister. «Ohne Suradj hätten wir es nicht geschafft», sagt seine Schwester Faranaz.

In der Schweiz sind die Rechtsmittel ausgeschöpft. Das kantonale Migrationsamt von Baselland muss die Wegweisung vollziehen. Momentan ist das nicht möglich, weil Ahmadi keine Reisedokumente hat. So sitzt er zu Hause, bezieht Nothilfe und kommt sich vor «wie ein Bettler».

All seine Hoffnungen ruhen auf dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Dort hat er gegen die Eidgenossenschaft Beschwerde eingereicht, weil sie ihm das Recht auf Einheit der Familie verweigere. Denn anders als im Schweizer Asylgesetz hat der in der Menschenrechtskonvention verankerte Familienbegriff mit dem Alter nichts zu tun: Was zählt, ist die gefühlte Zugehörigkeit und das, was im Alltag gelebt wird.n