Miriam Behrens lacht leise und sagt: «Ja siiiiiicher.» Zugegeben, die Frage, ob die Schweizerische Flüchtlingshilfe letztes Jahr mehr Personal einstellen musste, ist etwas gar banal. Natürlich brauchte man mehr Leute in der Zentrale und auch vor Ort bei den Mitgliedsorganisationen der Flüchtlingshilfe wie Caritas, Heilsarmee oder Heks, insgesamt mehrere Hundert.

Denn nach dem russischen Angriff flüchteten innert kürzester Zeit 70'000 Menschen aus der Ukraine in die Schweiz. Der Bundesrat aktivierte erstmals den Schutzstatus S. Er gewährt rasch Aufnahme, ohne ein ordentliches Asylverfahren. Für die 57-jährige Miriam Behrens, die seit 2016 Direktorin der Flüchtlingshilfe ist, war 2022 ein Jahr wie kein anderes. Die Biologin befand sich von einem Tag auf den anderen mitten in einem Sturm.


Frau Behrens, wie haben Sie den russischen Überfall auf die Ukraine vor einem Jahr erlebt?
Bei der Flüchtlingshilfe waren wir nicht vollkommen überrascht. Wir haben die Lage in der Ukraine seit der Krim-Annexion verfolgt und immer wieder auf die Instabilität und die imperialistische Politik Russlands hingewiesen. Aber ein Kriegsausbruch ist immer ein Schock. Dass es in Europa möglich ist, ein Land anzugreifen, einzumarschieren und es einfach zu besetzen, ist unglaublich empörend. Ich finde es bis heute schockierend, zu sehen, wie die Zivilbevölkerung leiden muss und welche Menschenrechtsverletzungen begangen werden.

Wie Miriam Behrens empfanden viele. Tausende demonstrierten in Schweizer Städten für Frieden. Überall wurde für die Menschen aus der Ukraine gesammelt, viele nahmen Geflüchtete bei sich auf. Die Schweiz trug Blau-Gelb.


Was fühlten Sie angesichts der grossen Solidarität? 
Sie hat mich sehr berührt. Ohne diese unglaubliche Solidarität der Bevölkerung wäre die Schweiz gar nicht in der Lage, mit so vielen Flüchtlingen auf einmal umzugehen. Viele erklärten sich bereit, als Gastfamilie Geflüchtete aufzunehmen, das ist ein aussergewöhnlich grosses Engagement. Aber es gab auch andere fachliche, Hilfeleistungen oder Spenden wie Kleider und Nahrungsmittel.


Hatten Sie mit so viel Hilfsbereitschaft gerechnet?
In diesem Ausmass nicht. Es war sehr bewegend! Aber am Anfang waren wir fast ein bisschen überfordert. Man muss ja alles gut organisieren, und das hat sich als enorm zeitaufwendig entpuppt.


Haben Sie deshalb eine Ukraine-Hotline eingerichtet?
Ja. Am Anfang liefen die Anrufe noch über unsere Zentrale. Damit mussten wir aber schnell aufhören. Die Leitung lief heiss, wir brauchten mehr Leute, um den Ansturm zu bewältigen. Die Gastfamilien hatten sehr viele Fragen – etwa zu Versicherungen, Finanzen oder generell zum Zusammenleben. Solange die Behörden nicht alles geregelt hatten, klingelte es bei uns ununterbrochen.


Wie hat das Ihren Alltag verändert? 
Die ersten drei Monate waren extrem streng. Täglich kamen bis zu 1300 Geflüchtete. Wie der Schutzstatus S genau funktioniert, war noch nicht klar, die Unterbringung in den Kantonen und Gemeinden nicht organisiert, die Prozesse waren überall unterschiedlich. In den ersten Monaten habe ich doppelt so viel gearbeitet wie sonst, viele andere auch. Neu für mich war die enge Absprache mit den Behörden. Man telefonierte zu allen Tages- und Nachtzeiten miteinander, die Informationswege wurden ungewöhnlich kurz. Dass diese pragmatische Zusammenarbeit möglich wurde, war eine sehr positive Erfahrung.

Die Flüchtlingshilfe hat in der Syrienkrise in einigen Kantonen erstmals ein Projekt lanciert, um Geflüchtete privat unterzubringen. Das Ausmass, in dem das Gastfamilienmodell letztes Jahr eingesetzt wurde, sei aber neu, sagt Behrens. 

Auch die Aufnahme der Geflüchteten lief anders ab: Weil Menschen aus der Ukraine ohne Visum in die Schweiz einreisen können und nicht das reguläre Asylverfahren durchlaufen müssen, war es möglich, sie direkt bei Gastfamilien unterzubringen. Der andere Unterschied zur Syrienkrise sei, dass Bundesrätin Karin Keller-Sutter dieses Modell öffentlich unterstützt habe. Das habe in der Bevölkerung Vertrauen geschaffen.

Zurzeit sind laut Flüchtlingshilfe 35 Prozent der Geflüchteten bei Gastfamilien untergebracht. Das sind 25000 Personen, die man sonst in staatlichen Unterkünften hätte einquartieren müssen. Mehr als die Hälfte der Gastfamilien hat ihr Engagement verlängert oder will es noch tun. 20 Prozent beherbergen seit über einem halben Jahr Geflüchtete. Mehr als die Hälfte derer, die bei den Familien ausgezogen sind, zügelte in eine eigene Wohnung. Das alles habe eine gewisse Stabilität ins System gebracht, sagt Behrens.


Die Bevölkerung war stark involviert, als Helferinnen und Gastgeber. Verändert das die Wahrnehmung der Asylfrage?
Das ist natürlich unsere Hoffnung. Ich glaube, die Haltung der Bevölkerung gegenüber Geflüchteten ist mit Gastfamilien- Verhältnissen eine andere, als wenn sie hinter Stacheldraht abgeschottet in einer Kollektivunterkunft leben. Das löst Sorgen und Ängste aus. In der Gastfamilie sind sie mitten in der Gesellschaft – für die soziale Integration ist das Gold wert.


Es hat mit dem Modell aber auch Probleme gegeben.
Alles in allem hat es gut funktioniert, auch wenn sicher nicht alle Kantone und Gemeinden gleich begeistert waren von der privaten Unterbringung. Die Entschädigung der Gastfamilien war lange ein Thema, das ist mittlerweile geklärt. Es gibt zwar grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Kantonen, aber immerhin bekommen Gastgeber fast überall etwas bezahlt. Damit wird ihre Leistung gewürdigt. Vor einem Jahr sagten Sie, die Solidarität halte meistens nur ungefähr ein halbes Jahr lang an. Mit dieser Einschätzung lagen Sie falsch. Ja, in Bezug auf die Ukraine ist diese Solidarität immer noch deutlich vorhanden. Es melden sich auch nach wie vor neue Gastfamilien bei uns. Aber die Stimmungslage könnte durchaus kippen.


Wieso?
Wir haben dieses Jahr Wahlen, und es ist zu befürchten, dass das Migrationsthema dafür instrumentalisiert wird, nach dem Motto: «Das Boot ist voll.» Vor allem weil sich die Lage im Kriegsgebiet nicht entspannt und die Zahl der Asylgesuche von Geflüchteten aus anderen Regionen seit Herbst wieder zunimmt. Die SVP forderte bereits, dass Leute aus der Ukraine in sichere Gebiete ihrer Heimat zurückgeschickt werden, obwohl es keine sicheren Gebiete gibt. Zum Glück ist das bisher ins Leere gelaufen, aber der Druck wird zunehmen, besonders auf die Menschen im regulären Asylverfahren.

Mit der erstmaligen Aktivierung des Status S betrat die Schweiz Neuland. Miriam Behrens ist für diese Massnahme des Bundesrats voll des Lobs: Die Schweiz habe pragmatisch und schnell gehandelt. Kritik und Sorgen seien ernst genommen worden. Asylorganisationen, Hilfswerke und Behörden hätten eng zusammengearbeitet, um die Krise gut zu meistern.

35% der Geflüchteten leben bei Gastfamilien. Das sind rund 25'000 Personen.

All das klingt sehr harmonisch. Lief wirklich alles so problemlos ab?
Natürlich gab es auch Schwierigkeiten. Ich finde den Föderalismus und die Zuständigkeit der Kantone in Asylfragen an sich gut. Auch insofern, als die Kantone und die Gemeinden in der Krise mithelfen. Aber alle machen ihr eigenes Ding. Die unterschiedlichen Standards und Prozesse haben alles sehr schwerfällig gemacht. Und das in einer Situation, in der es schnell gehen musste. Einzelne Kantone hatten tatsächlich Probleme mit der Unterbringung und wollten nicht mit Gastfamilien arbeiten, obwohl sich viele Freiwillige gemeldet haben. Wenn man das Hilfsangebot der eigenen Bevölkerung nicht annehmen will, bin ich schon etwas perplex.


Mit dem Schutzstatus S wurde ein Zweiklassensystem im Asylwesen etabliert. Ist das ein Problem? 
Dass man für die Ukrainerinnen und Ukrainer den Schutzstatus S aktiviert hat, war absolut richtig. Aber die Rechtsungleichheit ist aus unserer Sicht trotzdem stossend, und man muss sowohl beim Schutzstatus S als auch bei der vorläufigen Aufnahme, dem Status F, unbedingt über die Bücher. Zentral sind beim Status S zusätzliche Integrationsmassnahmen. Die vorläufige Aufnahme hingegen muss in einen positiven Schutzstatus umgewandelt und verbessert werden, etwa bei der Reisefreiheit und bei der Familienzusammenführung. Analog zum Status S sollten vorläufig Aufgenommene nach fünf Jahren automatisch Bei der Pflanzung einer Friedenslinde in Bern sagen Geflüchtete aus der Ukraine Merci. eine Aufenthaltsbewilligung erhalten.

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Tina Berg, Redaktorin
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