Das Blitz-«Gewitter» im Westen der Stadt Zürich war weit über die Stadtgrenzen hinaus Gesprächsthema. Ein Radarkasten blitzte Ende Januar in einer 30er-Zone so häufig, dass Anwohner von einem Defekt ausgingen. Allein in den ersten 24 Stunden ging er 350 Mal ab.

Der Kasten war installiert worden, weil Anwohnerinnen und die Kreisschulpflege bei der Stadt reklamiert hatten, viele Autos würden sich nicht an Tempo 30 halten. Auch Zoehre Akdogan engagierte sich. Die 48-Jährige wohnt an der Albisriederstrasse und hatte sich im September bei der Aktion «Achtung Schulweg» des Beobachters gemeldet.

Auf der Albisriederstrasse fahren täglich Tausende Autos Richtung Aargau, Zug und Luzern. Kinder auf dem Weg zur Schule müssen dort gleich vier Spuren überqueren, zwei für die Autos und zwei Tramtrassees. Die Kinder müssen also gleichzeitig auf die Autos und die Trams achten. Gerade bei nahenden Niederflur-Kompositionen hätten die Kinder oft Mühe, weil sie diese schlecht hören.

«Ohne Begleitung eines Erwachsenen können Erstklässler den Fussgängerstreifen nicht überqueren Gefährlicher Schulweg «Zur Sicherheit: Macht keinen Zebrastreifen!» », sagt Akdogan. Es sei oft zu gefährlichen Situationen und Fast-Unfällen gekommen. Viele Autofahrer seien sich nicht bewusst, dass hier ein Schulweg durchführe. Für ein rücksichtsvolleres Verhalten brauche es dringend ein Schulweg-Warndreieck und weitere Signalisationen.

Blitzer nach kurzer Zeit wieder weg

Monatelang wurden die Anwohnerinnen von der Stadt vertröstet. Als kurz vor Weihnachten am Escher-Wyss-Platz ein Fünfjähriger auf dem Weg in den Kindergarten tödlich verunfallte, ging es plötzlich schnell, die Polizei stellte einen mobilen Radar auf. «Die vielen geblitzten Fahrzeuge zeigen, dass wir recht hatten», sagt Zoehre Akdogan.

Doch nach nur einer Woche war der Blitzer wieder weg. «War etwa die Batterie leer?», fragt Akdogan. «Nein», sagt ein Sprecher der Stadtpolizei Zürich. Der Grund sei, dass man prüfen wolle, wie wirkungsvoll die Massnahme war. Man werde nun mit einem Verkehrsdatenmessgerät kontrollieren, ob die Geschwindigkeit eingehalten werde. Schnellfahrer bekämen aber keine Busse.

Sollte sich zeigen, dass ein Grossteil zu schnell unterwegs ist, werde die Verkehrsabteilung der Stadt einen Plan dafür ausarbeiten, in welchen Abständen künftig geblitzt werde. Zudem wolle man prüfen, ob weitere Massnahmen nötig seien. Oberstes Ziel der Polizei sei, nachhaltige Massnahmen zu ergreifen. Will heissen: Wenn Autofahrer wissen, dass an einer Stelle immer wieder geblitzt wird, fahren sie dort langsamer.

Kinder kennen die Strassenverkehrs-Codes nicht

Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, findet Zoehre Akdogan. Doch sie und viele andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer der «Achtung Schulweg»-Aktion beobachten noch etwas: Autofahrer, die nicht stoppen, wenn Kinder am Fussgängerstreifen stehen.

Pascal Regli kennt das Problem. Der Geschäftsführer des Vereins Fussverkehr Schweiz setzt sich schweizweit für sichere Fuss- und Schulwege ein. «Die Kinder wissen noch nicht, wie man selbstbewusst anzeigt, dass man die Strasse überqueren will.» Die Kleinen kennen die Codes noch nicht. Diese Unsicherheit würden gestresste Autofahrer unterschwellig wahrnehmen – und ungebremst weiterfahren.

Kinder sind keine «kleinen Erwachsenen»

«Autofahrer behandeln Kinder wie kleine Erwachsene», sagt Regli. Ihnen sei häufig zu wenig bewusst, dass Kinder vieles aufgrund ihres Entwicklungsstandes noch nicht können. So haben etwa kleinere Kinder Mühe, mit einem Fahrer Blickkontakt aufzunehmen, weil sie auf die Scheinwerfer fokussieren. Komme dazu, dass man die Autofahrer hinter den getönten Scheiben schlecht sieht, so Regli. Das mache die Kommunikation zwischen Autofahrer und Kind schwierig. 

Und sie können Geschwindigkeiten und Distanzen nicht einschätzen. Darum bleiben sie auch dann noch stehen, wenn Autofahrer vor dem Zebrastreifen nur verlangsamen statt anhalten. Sie können die entstehende Zeitlücke noch nicht nützen, um die Strasse zu überqueren. Das bringe viele Fahrzeuglenker fast zum Verzweifeln.

«Wir bewegen uns in einem System, das perfekt auf den motorisierten Verkehr ausgerichtet ist – und der aktuelle Zustand wird in Verkehrsanalysen immer wieder zementiert.»

Pascal Regli, Geschäftsführer Fussverkehr Schweiz

Regli sagt, in der  Verkehrsplanung sei es unterdessen eine Binsenweisheit, dass Geschwindigkeit ein Schlüsselkriterium für mehr Verkehrssicherheit ist. «Je langsamer gefahren wird, desto sicherer.» In der Bevölkerung seien aber Tempo-30-Zonen immer noch nicht überall mehrheitsfähig, viele Leute lehnen sie ab. «Wir bewegen uns in einem System, das perfekt auf den motorisierten Verkehr ausgerichtet ist – und der aktuelle Zustand wird in Verkehrsanalysen immer wieder zementiert.»

Allmählich kommt aber Bewegung in die Sache. Etwa, indem seit Anfang Jahr für «nicht verkehrsorientierte» Strassen kein Verkehrsgutachten mehr erstellt werden muss, bevor das Tempo gesenkt werden kann. Das betrifft vor allem Quartierstrassen. Die Kosten für diese Fachberichte seien für Gemeinden oft eine Hürde gewesen, sagt Regli. Trotzdem komme die Perspektive der Fussgänger, Velofahrer und Menschen mit besonderen Bedürfnissen immer noch zu kurz in der Verkehrsplanung. «Da haben wir noch einen weiten Weg vor uns.»

Auch in der Ausbildung der Autofahrer könnte es bald Veränderungen geben. Wie das Bundesamt für Strassen (Astra) auf Anfrage mitteilt, überarbeitet es zusammen mit Experten der Vereinigung der Strassenverkehrsämter (ASA), der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) und der Fahrlehrerschaft die Inhalte des obligatorischen Verkehrskundeunterrichts. Neu sollen zwei der total acht Stunden dem Thema «Rücksichtnahme» gewidmet sein. 

Die eingesetzte Arbeitsgruppe prüfe derzeit, wie die Lernenden besser darin geschult werden können, auf andere Verkehrspartner Rücksicht zu nehmen. «Das Augenmerk soll namentlich auf schwächere Verkehrsteilnehmende und spezifische Situationen gelegt werden, welche besondere Aufmerksamkeit benötigen», schreibt das Astra. Die Anpassung soll aber nicht vor 2025 in Kraft treten.

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