Beobachter: Es gibt schwule Popstars und lesbische Stadtpräsidentinnen. Ist es für Teenager noch ein Problem, sich zu outen?
Udo Rauchfleisch:  Man müsste meinen, nein. Doch die Realität zeigt: Nach wie vor sind  unter homosexuellen Jugendlichen Angsterkrankungen, Depressionen, auch der Wunsch, sich umzubringen, wesentlich häufiger als bei gleichaltrigen  heterosexuellen Jugendlichen. Zudem gehen Schwule und Lesben im Schnitt  zwei Jahre später reale sexuelle Beziehungen ein.

Warum betonten Sie «reale» Beziehungen?
Weil die Jugendlichen zwar im Internet surfen, sich outen und online  allerlei Kontakte zu Gleichgesinnten knüpfen können. Aber es scheint,  als zögere dies ein Coming-out im realen Leben eher hinaus.

Ist das virtuelle Coming-out wertlos?
Nicht wertlos. Aber letztlich zählt eben immer noch die Anerkennung im Kreis der Familie, bei Freunden, am Arbeitsplatz.

Damit stellt sich für die Betroffenen die Frage: Wem vertraue ich mich als Erstes an?
In der Regel werden Frauen bevorzugt: also die Mutter oder die beste Freundin.

Weil Männer homophober sind?
Das zeigen alle Studien, ja. Wobei der Begriff «homophob» die Sache verschleiert. Letztlich ist es schlicht eine weitverbreitete Homosexualitätsfeindlichkeit.

Warum diese Differenzierung?
Bei einer klassischen Phobie wie der Höhenangst etwa meidet der Betroffene jeden hohen Turm. Schon allein der Gedanke daran macht ihm weiche Knie. Homophobe hingegen meiden Homosexuelle gerade nicht. Im Gegenteil: Sie beschäftigen sich dauernd mit ihnen, sei es nur, um sich lustig über sie zu machen oder sie sogar tätlich anzugreifen.

Warum sind Männer tendenziell schwulenfeindlicher als Frauen?
Männer klammern sich stärker an ihre traditionelle Rolle. Und Homosexualität stellt diese eben ein Stück weit in Frage.

In der Öffentlichkeit geniessen Homosexuelle zum Teil hohes Ansehen. Doch ist die eigene Tochter lesbisch, kriegen Mami und Papi noch immer sehr oft die Krise. Warum?
Die Mehrheit in unserer Gesellschaft ist eben heterosexuell. Eltern gehen deshalb wie automatisch davon aus, dass ihr Kind auch heterosexuell sein wird. Kommts anders, steht die Welt plötzlich kopf. Sie fragen sich: Was werden die Leute sagen? Kriegt meine Tochter jetzt Probleme? Oder: Und was ist mit Enkelkindern?

Das sind doch eher die harmloseren Bedenken.
Es gibt natürlich auch weiterhin konservative Eltern mit sehr traditionellen Rollenbildern – eben vor allem Männer. Oder Eltern aus kirchlich-fundamentalistischen Kreisen. Outet sich deren Tochter als Lesbe, geraten sie in arge Gewissenskonflikte. Nach ihrer Glaubensrichtung dürfte es das homosexuelle Kind gar nicht geben.

Aber ist es nicht einfach normal, dass Eltern auf ein Coming-out ihres Kindes zunächst einmal verunsichert reagieren?
Das ist absolut in Ordnung. Zumal nicht alle Sorgen unberechtigt sind. Zudem haben alle Eltern ihre Vorstellungen, wie und was ihr Kind werden soll, ob Akademiker oder Konzertpianist. Entscheidend ist, ob sie auch bereit sind, von diesen Idealbildern Abschied zu nehmen. Und: Sind sie bereit für ihr eigenes Coming-out? Also hinzustehen und zu sagen: Unsere Tochter ist lesbisch, und das ist gut so.

Ist Homosexualität angeboren?
Über die Entstehung der sexuellen Orientierung des Menschen wissen wir wenig, im Grunde fast nichts. Sicher scheint, dass die sexuelle Orientierung ein Stück weit genetisch angelegt ist. So gibt es Familien, in denen Homosexualität vermehrt auftritt, ohne dass man sagen könnte, dies hätte etwas mit Erziehungseinflüssen zu tun.

Gibt es das viel zitierte Schwulen-Gen?
Das ist unklar. Gefunden hat es jedenfalls noch niemand.

Neben der genetischen Disposition steht eine andere Erklärung für Homosexualität im Raum: das hormonelle Umfeld im Mutterleib.
Es wurde angenommen, der schwule Fötus habe zu viele weibliche Hormone abgekriegt. Doch auch diese Erklärung trifft nicht zu. Dahinter steckt die uralte Vorstellung, nach der Schwule weiblich identifiziert seien und Lesben männlich. Schon Magnus Hirschfeld, ein Vorreiter der homosexuellen Emanzipation, sprach um die Jahrhundertwende davon: Beim schwulen Mann stecke eine weibliche Seele im Körper. Dieses Muster sitzt tief drin in unserer Kultur. Es geht davon aus, dass es eine Polarität in der Anziehungskraft braucht.Dabei geht das schon logisch nicht auf: Wenn zwei Lesben zusammen sind mit diesen vermeintlich männlichen Seelen in ihrer Brust, gibt es diese Polarität ja nicht.

Ab welchem Alter kann man sagen, ein Kind ist hetero- oder eben homosexuell?
Generell muss man davon ausgehen, dass die sexuelle Orientierung spätestens im Moment der Pubertät festliegt und eigentlich irreversibel ist. Natürlich kann sich jemand dann immer noch für oder gegen einen bestimmten Lebensstil entscheiden, aber die inneren Bilder bleiben.

Sogenannte Umpolungsseminare «zur Rettung von Schwulen», wie sie der amerikanische Guru Comiskey auch in der Schweiz angeboten hat, sind also Humbug.
Absolut. Comiskey, der aus evangelikalen Kreisen der USA stammt, hat mal in einem Interview erklärt, er habe schrecklichste Sünden begangen, sei jetzt aber «geheilt», verheiratet und habe Kinder. Interessanterweise betonte er im gleichen Interview, dass er heute noch Satans Versuchungen ausgesetzt sei. Das heisst, auch bei Comiskey ist die innere Präferenz, sind die inneren Bilder und die erotisch-sexuellen Phantasien offenbar dieselben geblieben.

Gibt es kindliche Verhaltensweisen, die auf eine spätere Homosexualität hinweisen?
Fragt man Schwule und Lesben, bekommt man fast immer zu hören: Ich habe als Kind für diesen Mann oder jene Frau geschwärmt. Das kann ein Lehrer sein oder die Mutter eines Freundes. Dieses Anhimmeln einer Person des gleichen Geschlechts ist von einer anderen Qualität als das «normale» Schwärmen heterosexueller Kinder. Ein Junge findet seinen Lehrer nicht einfach nur toll, das Schwärmen hat immer auch eine erotische Note. Und auch beim Thema Onanie tauchen Unterschiede auf.

Was für welche?
Schwule Männer erklären oft, dass bei ihnen die Selbstbefriedigung eine stärkere Bedeutung hatte als bei ihren gleichaltrigen Kollegen. Für die sei es einfach ein interessantes Herumexperimentieren mit der eigenen Sexualität gewesen, mehr nicht.

Und dass Schwule lieber lesen als Fussball spielen – nur ein Klischee?
Interessanterweise haben fast alle Studien dieses vermeintliche Klischee bestätigt: Schwule mochten in ihrer Kindheit tatsächlich lieber Musik, Literatur oder Kunst als Rugby oder Fussball. Diese Präferenz scheint jedoch nicht angeboren zu sein. Ich denke eher, dass diese Kinder sich quasi sagten: «Okay, wenn ich schon nicht so bin wie die anderen, dann muss ich mich wohl auch anders verhalten und für andere Dinge interessieren als sie.»

Aber nicht jeder Junge, der einmal ins Röckchen steigt, wird unweigerlich schwul?
Nein. Das kann ein Indiz sein, aber auch einfach so eine kindliche Phase. Und genauso gut kann einer als Kind Fussball lieben – und trotzdem homosexuell werden.

Mütter fragen sich oft, ob sie ihren schwulen Sohn vielleicht zu sehr «verhätschelt» haben.
Die Idee der starken Mutter und des schwachen, nicht präsenten Vaters: Wäre etwas dran an dieser Vorstellung, müsste die Hälfte der Bevölkerung schwul sein. Erstaunlicherweise sind es fast immer Frauen, die sich diesen Vorwurf machen.

Die Väter nicht?
Selten. In ihrem alten Rollenverständnis ist ja die Frau für die Erziehung zuständig. Solange es gut läuft, ist alles okay. Geht etwas schief, kommt nur sie als Schuldige in Frage. Doch man kann sie beruhigen: Eltern von Homosexuellen haben nichts falsch gemacht. Sie haben ihre Kinder so erzogen und sind ihnen so gerecht oder ungerecht geworden wie alle anderen Eltern auch. Homosexualität mag viele Gründe haben, aber Erziehungsfehler gehören mit Sicherheit nicht dazu.

Aber Eltern können beeinflussen, ob sie ihrem Kind ein Coming-out leichter machen.
Durchaus. Je offener das Milieu ist, in dem sich ein Kind bewegt, und je offener die Eltern auch mit ihren eigenen Geschlechterrollen umgehen, desto eher wird das Kind seiner wahren Gefühle gewahr und findet auch den Mut, sich gegen aussen hin zu offenbaren. Das Coming-out hat ja bekanntlich diese beiden Phasen.

Wenn äussere Einflüsse für das Herausbilden der sexuellen Orientierung keine Rolle spielen, müsste dann die Zahl der Homosexuellen nicht stets konstant geblieben sein?
Davon kann man ausgehen. Aber belegen lässt sich das natürlich nicht.

Gibt es mehr Schwule als Lesben?
Es scheint so. Bei den Frauen geht man von zwei bis drei Prozent Homosexuellen aus, bei den Männern von vier bis fünf Prozent. Diese Schätzungen dürften jedoch wegen der grossen Dunkelziffer zu tief liegen. Wir müssen von zirka zehn Prozent von Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung ausgehen. Allerdings ist in dem Zusammenhang interessant zu wissen: Auf der Kinsey-Skala zur Bewertung der sexuellen Orientierung eines Menschen lokalisieren sich Männer in der Regel an den Extrempunkten. Sprich: Sie sind entweder 100 Prozent Homo oder 100 Prozent Hetero. Frauen sind da viel variabler.

Frauen schämen sich nicht, wenn sie einmal eine gleichgeschlechtliche Beziehung haben?
Genau. Wenn heterosexuelle Männer in der Therapie offenbaren, sie hätten mal etwas mit einem Mann gehabt, schieben sie sofort nach: «Aber da war ich betrunken.» Lustigerweise tun homosexuelle Männer genau dasselbe, wenn es bei ihnen um eine Beziehung zu einer Frau geht. Frauen hingegen scheint nicht so sehr die Frage zu interessieren: «Bin ich nun homosexuell oder nicht?», sondern primär die Frage: «Macht mich meine Partnerschaft glücklich oder nicht?»

In der Schule meiner Kinder ist «schwul» noch immer ein Schimpfwort. Müssen Homosexuelle einfach mit diesem Schicksal leben?
Ich hoffe nicht. Viele Kinder, die das sagen, wissen ja gar nicht, was das bedeutet.

Wo liegt das Problem?
Entscheidend ist, dass Homosexualität in der Schule, aber auch im Elternhaus vorurteilslos behandelt wird – einfach als eine Möglichkeit, wie Frau und Mann empfinden und mit anderen Menschen zusammenleben. Dann ist wichtig, dass Lehrer und Eltern sofort reagieren, wenn entsprechende Beschimpfungen oder gar Übergriffe auf Homosexuelle stattfinden. Ein Problem ist sicherlich auch, dass gerade an der Schule die Vorbilder fehlen, wie ein respektables Schwul- oder Lesbischsein ausgelebt werden kann.

Das verstehe ich nicht.
Nun, viele Lehrerinnen und Lehrer verstecken ihre eigene Homosexualität aus der leider nicht unbegründeten Angst, die Umgebung werde Pädosexualität und Homosexualität vermischen. Als ob homosexuelle Frauen und Männer nichts Besseres zu tun hätten, als sich an Kindern zu vergreifen oder sie zur Homosexualität zu verführen – was sowieso nicht möglich ist. Dabei hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. Pädosexuelle gibt es bei den Heteros genauso wie bei Lesben und Schwulen.

Die traditionelle Familie erodiert. Man hat Angst, diesen Zerfall noch zu beschleunigen, wenn man etwa in Schulbüchern andere Formen des Zusammenlebens propagieren würde…
Also zeichnet man das heile Bild des glücklichen heterosexuellen Ehepaars Marti mit seinen zwei Kindern. Aber in vielen Familien sieht die Realität doch längst anders aus. Vielleicht wäre es also sinnvoller, man würde auch mal die alleinerziehende Frau Marti zeigen, die von ihrem Mann getrennt lebt – und trotzdem glücklich ist.

Aber es ist doch nichts Verwerfliches daran, ein Ideal hochzuhalten?
Natürlich nicht. Es wäre auch dumm zu behaupten, eine glückliche traditionelle Familie wäre etwas Schlechtes. Aber es besteht keine Gefahr für die traditionelle Familie, wenn andere Modelle in Kinderbüchern als lebbar dargestellt werden. Es geht schlicht um den ehrlichen Umgang mit verschiedenen Realitäten.

Udo Rauchfleisch, 68, ist Psychoanalytiker und emeritierter  Professor für klinische Psychologie an der Universität Basel. Er ist  Autor zahlreicher Fachbücher zu sexuellen Identitäten und zu Themen der  psychoanalytischen Theorie und Therapie. Rauchfleisch ist geschieden,  hat drei Kinder und lebt mit seinem Lebenspartner in Basel.

Buchtipp

Udo Rauchfleisch: «Warum gerade mein Kind?»; Walter-Verlag, 2006, 152 Seiten, CHF 24.90