Beobachter: Sind Wutbürger ein neues Phänomen?
Frank Urbaniok:
Nein, es gab schon immer Menschen, die einfach schneller wütend und empört sind. Geändert hat sich die Art und Weise, wie sie ihrer Wut Luft machen. Früher passierte das am Stammtisch oder in einem Verein. Heute können sie sich im Internet mit Gleichgesinnten vernetzen. Das potenziert ihre Meinungen und Themen. In Foren werden diese dann dauernd bewirtschaftet, selbst wenn sie auf längst widerlegten Annahmen beruhen. Dann gibt es viele, die eine starke Diskrepanz spüren zwischen dem, was sie persönlich erleben oder wahrnehmen, und dem, was in den Medien und der Politik abgebildet und debattiert wird.

Wo ist diese Diskrepanz besonders gross?
Nehmen wir als Beispiel unter vielen das Thema Ausländerkriminalität. Die grosse Mehrheit der Ausländer ist nicht kriminell. Gleichzeitig gibt es beunruhigende Entwicklungen in Europa. In manchen deutschen Städten etwa sind heute ganze Gebiete unter der Kontrolle von ausländischen Clans. Medien und Politiker haben das lange nicht thematisiert, auch aus Angst, als Ausländerfeinde hingestellt zu werden. Das sorgt bei vielen Bürgern, die solche Entwicklungen im Alltag wahrnehmen, für Unmut. Ein anderes Beispiel ist der Umgang mit Zahlen zur Kriminalität.

«Wütende Leute sind besonders anfällig für Scheinlösungen.»
 

Inwiefern?
Es gibt Nationalitäten, deren polizeiliche Kriminalitätsquote statistisch gegenüber Inländern um ein Vielfaches erhöht ist. Bei Verurteilten und Strafgefangenen sieht es nicht besser aus. Dennoch treten in jeder Talkshow Experten auf, die behaupten, diese Zahlen vermittelten einen falschen Eindruck. Nationalitäten oder Herkunft hätten nichts mit Kriminalität zu tun. Die ins Feld geführten Argumente sind aber falsch. Sie dienen dazu, die Probleme im Bereich der Ausländerkriminalität zu beschönigen. Wenn Behörden die Nationalität von Tätern nicht mehr offenlegen wollen, wie unlängst in Zürich beschlossen, entsteht der Eindruck, man wolle etwas vertuschen. Das nährt Misstrauen in der Bevölkerung und sorgt für Wut. Wütende Leute , die dem Staat misstrauen, sind besonders anfällig für einfache Scheinlösungen und dumpfe Propaganda.

Steckt hinter solchen Tabus die Angst vor Bürgern, die mit solchen Informationen nicht umgehen können?
Das ist das Problem. Wir lieben Schwarz und Weiss, Links oder Rechts. Mit Grau und Mitte können die Menschen nicht gut umgehen. Dabei müssten wir das bei den meisten Themen, die uns heute beschäftigen. Eigentlich ist es gar kein Widerspruch, sich für die Aufnahme von verfolgten Menschen und die Integration von Ausländern Arbeitsintegration Was ist aus den Flüchtlingen geworden? einzusetzen und gleichzeitig die Probleme der Ausländerkriminalität klar zu benennen. Aus der Angst heraus, missverstanden zu werden, und aus Furcht vor «unhygienischen» Themen gibt es jedoch vielerorts eine «weiche Zensur». Dieser Mechanismus liefert Futter für Populisten und für Wutbürger – aus Ungesagtem entstehen Frust und Wut.
 

«Wenn es im Busch raschelt, hat derjenige die grössten Überlebenschancen, der sofort abhaut.»
 

Ist uns die Fähigkeit zu differenzieren abhandengekommen?
Die war nie einfach da. Die Aufklärung hat sie gefordert, aber die Evolution ist ein starker Gegenspieler. Um es plakativ auszudrücken: Wenn es im Busch raschelt, hat statistisch gesehen derjenige die grösseren Überlebenschancen, der sofort abhaut. Und eben nicht derjenige, der erst nachschauen geht, was da geraschelt hat. Der Verstand muss immer schnell oder eindeutig Informationen liefern oder am besten beides zugleich. Dieser Mechanismus steht im Widerspruch zur Aufklärung, zum Humanismus.

Darwin schlägt Kant, sozusagen.
Genau. Die meisten Tiere, die seit Jahrmillionen überleben, funktionieren reflexartig, automatisch und nicht sehr reflektiert. Also hat die Evolution auch bei uns jene Prinzipien angewandt, mit denen sie gute Erfahrungen gemacht hat. Das sind die evolutionären Stossdämpfer, die in unseren Verstand eingearbeitet wurden. Daher kommen wir mit Mehrdeutigkeit, mit Unklarheiten und Differenzierungen nicht gut klar.

Trotzdem sind wir nicht alle Wutbürger. Wird ein Wutbürger als solcher geboren oder macht ihn die Welt zum Wütenden?
Es gibt Leute mit einem erhöhten Potenzial – die gehen buchstäblich mit rotem Kopf durchs Leben. Oft sind aber auch die Lebensgeschichten prägend, teils die objektiven, teils sehr subjektive. Viele haben das Gefühl, die Welt habe sich gegen sie verschworen Sozialsystem «Lieber Staat, willst du das wirklich?» .
 

«Die Hemmschwellen sinken, gerade im öffentlichen Raum.»
 

Sind Jugendliche besonders wütend?
Sie haben eine höhere Bereitschaft, oppositionell zu sein, das ist nicht neu. Gefährlich wird es, wenn sich Gruppen gegen etablierte, humanistische Werte vernetzen, Tabus brechen. Symptome dafür gibt es viele: auf einen einprügeln, der schon am Boden liegt, auf Sanitäter losgehen Gewalt und Drohungen Hilferuf aus dem Polizei-Korps . So was gab es früher in den USA, und wir konnten es nicht fassen. Jetzt passiert es auch bei uns.

Die Jugend werde skrupelloser, heisst es oft. Aber die Zahl schwerer Gewalttaten nimmt ab.
Das Bild ist gemischt. Die Kriminalität geht zwar in gewissen Bereichen tatsächlich deutlich zurück. Zugleich gibt es aber regelrechte Hotspots, wo sie in hohem Ausmass stattfindet. Und man kann sagen, dass die Hemmschwellen sinken, gerade im öffentlichen Raum .

Ist das eine Folge des Wutbürgertums?
Wutbürgertum und sinkende Hemmschwellen im öffentlichen Raum sind unterschiedliche Facetten desselben Phänomens. Es gibt eine allgemeine Beschleunigung, mehr Hektik, die Gesellschaft ist insgesamt aufgeregter, auf der Suche nach Extremen und dadurch oft auch hemmungsloser und brutaler Opfer einer Straftat Den Täter anzeigen? .

Wie kommen wir da wieder heraus?
Wir müssen reden, sensibilisieren, Tendenzen benennen. Wir müssen das vermeiden, was Gift ist für die Demokratie: Verschweigen, tendenziöses Berichten, Verzerrungen. Themen, die Leute offensichtlich beschäftigen, dürfen nicht tabuisiert werden. Unser Verstand ist durchaus in der Lage, die Wahrheit zu erkennen. Nur halbe Wahrheiten zu kommunizieren und zu polarisieren, ist die Domäne von Extremisten. Wenn Medien, Politik und Behörden das auch tun, schaden sie der Demokratie.
 

Frank Urbaniok ist forensischer Psychiater und war von 1997 bis 2018 Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich.

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