Beobachter: Früher wollte man einfach nur weg, heute boomt das Hotel Mama. Was ist passiert?
Christine Harzheim: Das Problem sind oft Eltern, die keine Verantwortung für ihre eigenen Bedürfnisse übernehmen. Sie hoffen, dass der Drang zu gehen bei den Kindern von alleine kommt und sie nur noch «Ja» und «Viel Glück!» sagen müssen. Kinder werden so zu Nesthockern, weil man sie lässt.

Warum zögern Eltern, sich abzugrenzen und ihre Kinder in die Welt zu schicken?
Aus Angst Empty-Nest-Syndrom Wenn die Kinder plötzlich flügge sind vor Liebesverlust. Dabei leiten Eltern ja mitnichten das grosse Zerwürfnis ein, wenn sie den Wunsch äussern, wieder alleine leben zu wollen. Man muss ja nicht sagen: «Wir schmeissen dich jetzt raus!» Viele Eltern erlebe ich als ambivalent. Sie wollen den Raum wieder für sich, haben aber ebenso Angst, dass sich die Jungen zu weit ablösen.

Was geschieht, wenn dieser Ablöseprozess nicht richtig funktioniert?
Die Probleme werden stabilisiert. Man bleibt zusammen und leidet unter rumliegenden Socken, fehlender Dankbarkeit und nächtlicher Ruhestörung auf der einen Seite und Genörgel, Indiskretionen und Vorwürfen auf der anderen.

Wie motiviert man einen Nesthocker, endlich flügge zu werden?
Gar nicht! Wenn man wartet, bis das erwachsene Kind motiviert genug ist, hat man unter Umständen verloren Erziehung «Viele Eltern lassen sich vom Kind steuern» .

Welche Rolle spielt die Erziehung?
Eine entscheidende. Die Frage lautet doch: Weshalb sind unsere Kinder mit 20 so wenig wetterfest? Wir achten bei der Erziehung darauf, dass sich Kinder sicher, geborgen und wohl fühlen. Das gibt vor allem in den ersten Jahren durchaus Sinn. Leider achten wir gleichzeitig zu wenig darauf, wie wir sie wirklich vorbereiten auf das Leben der Erwachsenen mit all seinen Herausforderungen und Tücken.

Erleben Sie das auch in Ihrem Praxisalltag?
Es gibt nicht die Familie. Ich kenne Familien, in denen alle das Beisammen-wohnen-Bleiben von allen gewünscht und gemocht ist. Das führt im besten Fall zu einem Mehrgenerationen-Arrangement. Das andere Extrem sind Eltern, die fluchtartig ausziehen und den erwachsenen Sohn «zurücklassen». Weil sie es als einzige Möglichkeit betrachten, die Nach-Kinder-Zeit einzuleiten.

Welche anderen Gründe gibt es, länger zusammenzubleiben als üblich?
Viele. Es gibt Familien, die sich die Finanzierung eines WG-Zimmers schlicht nicht leisten können, weil das Budget knapp oder das Studium des Kindes aufwendig ist. Da muss notgedrungen das Zusammenleben gestaltet werden. Oder Fälle, wo eine physische oder psychische Krankheit des Kindes die Ablösung kompliziert machen. Würde es die magersüchtige Tochter oder der depressive Sohn Depression bei Kindern Jung und schon des Lebens müde überhaupt ohne Eltern schaffen?

Wie organisiert man sich da?
Es lohnen sich sachliche Auseinandersetzungen zu Themen wie Haushalt, Verantwortung, Freiräume.

Wie sinnvoll sind Ultimaten?
Fristen helfen dabei, Auseinandersetzungsprozesse zu beginnen. Ein Ultimatum darf aber nicht zu rigide gehandhabt werden. Wenn ein Hindernis auftaucht, sucht man gemeinsam eine Lösung, ohne von der grundsätzlichen Erwartung abzuweichen. Das Ziel bleibt der Auszug.

Wie soll man reagieren, wenn das Kind nach einem halben Jahr wieder auf der Schwelle steht?
Auch hier helfen Fristen. Ich würde als Mutter ein erwachsenes Kind in einer Krise immer aufnehmen – aber nicht auf unbestimmte Zeit. Eher: «Du kannst jetzt mal für drei Monate zu uns kommen, dann entscheiden wir weiter.» Falls man aber nicht will, dass ein Kind wieder länger zurückkommt, sollte man dies auch klar kommunizieren. Das ist absolut legitim.


Christine Harzheim, 57, ist systemische Familientherapeutin und Elternberaterin. Sie hat zwei erwachsene Söhne und eine erwachsene Tochter. Sie schreibt regelmässig für den Beobachter.

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