Sie ist 19 und bis auf die Knochen abgemagert. Sie leidet an Depressionen, lebt vollkommen isoliert. Und sagt: «Ich bin eine Überlebende.» Nur ihr kleines Kind halte sie davon ab, sich das Leben zu nehmen. Das Mädchen sei ihre einzige Perspektive in dieser fremden Welt fern der Heimat. Es ist das Kind eines Vergewaltigers.

Die junge Eritreerin sitzt erstmals im Büro der Kinder- und Jugendpsychiaterin Fana Asefaw in Winterthur. Hier erzählt sie in kurzen Sätzen, wie sie ihre Jungfräulichkeit verlor. Auf der Flucht, in Libyen, vergingen sich mehrere Männer an ihr. Von einem wurde sie schwanger. Bemerkt hat sie das erst, als sie in der Schweiz war. Die sexuellen Übergriffe verschwieg sie lange Zeit. Denn sie hatte Angst, man nähme ihr das Kind weg.

«Manche versuchen, das Kind selbst abzutreiben. Und verbluten dabei fast.»
Fana Asefaw, Psychiaterin

Auch Psychiaterin Fana Asefaw stammt ursprünglich aus Eritrea. Sie leitet die Sprechstunde «Migration und Trauma» am Ambulatorium der Clienia in Winterthur. «Ich kenne viele ähnliche Fälle. Doch die Bindung zum Kind ist nicht immer so stark», sagt sie. «Ich habe in meiner Praxis auch vergewaltigte Flüchtlingsfrauen, die versucht haben, das Kind selber abzutreiben. Manche sind fast verblutet.» Die Verzweiflung, die Frauen zu solchen Handlungen treibt, sprenge jedes Vorstellungsvermögen.

Wie viele Flüchtlingsfrauen dieses Schicksal teilen, ist nicht bekannt. Ob eine Schwangerschaft durch Vergewaltigung entstanden ist, wird im Asylprozess nicht erfasst. Man sei sich aber der Problematik bewusst und nehme sie ernst, teilt das Staatssekretariat für Migration mit. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien sensibilisiert. Allfällige Traumatisierungen würden ebenso wie Krankheiten in die Prüfung der Asylgründe einbezogen. Das gelte unabhängig davon, wo die Traumatisierung stattgefunden habe.

Zwangsprostituiert oder entführt

Auf der Flucht nach Europa sind vor allem allein reisende Frauen sexueller Gewalt ausgesetzt. «Je nach Fluchtroute ist die Wahrscheinlichkeit von Übergriffen sehr hoch», sagt Expertin Denise Graf von Amnesty International Schweiz. Es gebe besonders viele Berichte aus Libyen, aber auch aus Griechenland und der Türkei. 

Mehrere Formen der Gewalt seien bekannt: Frauen werden von Menschenhändlern zur Prostitution gezwungen. Oder sie werden vergewaltigt. Oder entführt, um von der Familie Geld zu erpressen. Ausserdem gibt es Abhängigkeiten zwischen Flüchtlingen und Schleppern, die sexuelle Übergriffe begünstigen. Einzelne Fliehende sehen sich gezwungen, sich zu prostituieren, um das tägliche Überleben und die Weiterreise zu finanzieren. Betroffen seien auch Männer, sagt Denise Graf – aber viel weniger als Frauen. Zum Teil komme es auf der Flucht auch zu kurzen Beziehungen. Die Frauen werden schwanger, die Wege trennen sich.

Eine hohe Dunkelziffer

«Ich erinnere mich an eine Frau, die dann ihr Kind zur Adoption freigab», erzählt Katharina Quack Lötscher. «Die Problematik wird unterschätzt», sagt die Ärztin an der Klinik für Geburtshilfe des Universitätsspitals Zürich. Es gebe eine hohe Dunkelziffer von Frauen, die ungewollt auf der Flucht schwanger wurden. «Die Hürde, jemandem in einem fremden Land davon zu erzählen, ist hoch.»

Viele betroffene Frauen fürchten sich vor Stigmatisierung. Sie schweigen aus Angst, aus ihrer Familiengemeinschaft ausgeschlossen zu werden, stellen Fachleute immer wieder fest.

Fana Asefaw

«Es gibt noch zu wenig Netzwerke»: Psychiaterin Fana Asefaw.

Quelle: Sophie Stieger

Manchmal lassen sich Schranken mit Hilfe transkultureller Übersetzerinnen abbauen. Eine ist die Somalierin Khadija Jaamac. Sie engagiert sich als Dolmetscherin bei Geburtsvorbereitungskursen, die der Verein Mamamundo in Bern durchführt. Im Kurs wird mit Bildern gezeigt, wie sich ein Embryo entwickelt. «Das ist häufig der Moment, wo ich merke, dass etwas nicht stimmt», sagt Khadija Jaamac. «Ich nehme die Frauen in der Pause zur Seite. Dann beginnen sie zu weinen und erzählen.» Ein Schwangerschaftsabbruch komme für viele aus religiösen Gründen nicht in Frage.

Khadija Jaamac berichtet von einer Somalierin, die in einem libyschen Flüchtlingslager vergewaltigt wurde. Sie reiste schwanger in die Schweiz ein, wo sie in einem Asylbewerberzentrum mit sehr vielen Männern untergebracht wurde. «Sie stand Todesängste aus, sie wollte sich umbringen.» Schliesslich sei es gelungen, sie in einem Zentrum zu platzieren, wo mehrheitlich Frauen und Familien leben. 

Die Frau hatte Glück – viele werden mit ihrem Schicksal allein gelassen. «Traumatische Erfahrungen mit sexueller Gewalt werden in den Asylunterkünften nicht systematisch angegangen, und spezialisierte Beratungsangebote fehlen», kritisiert eine aktuelle Studie der Berner Fachhochschule. Hier gebe es klar eine Unterversorgung. «Das Thema der Gewalterfahrungen auf der Flucht überfordert sowohl die betroffenen Frauen als auch die Betreuerinnen und Betreuer.»

Die Geburt ist ebenfalls traumatisch

Wenn sie Glück haben, erhalten traumatisierte Schwangere Hilfe und werden für eine Psychotherapie an ein Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer überwiesen. In Bern wird es vom Schweizerischen Roten Kreuz geführt. «Das Thema vergewaltigte Schwangere spielt bei uns eine wichtige Rolle», sagt die psychologische Leiterin Carola Smolenski. «Eine Schwangerschaft löst ständig die Erinnerung an das traumatische Erlebnis aus. Die Gedanken an das Kind und die spätere Beziehung zu ihm sind oft zwiespältig, wenn nicht sogar ablehnend.» Die Geburt selbst – mit Schmerzen und dem Gefühl des Kontrollverlusts – erlebten viele Frauen als Retraumatisierung.

Die Forderungen des Ambulatoriums sind klar: Es brauche eine gute Vorbereitung sowie Information vor und während der Geburt. Leider ziehe man noch immer zu selten professionelle interkulturelle Dolmetscherinnen bei. Häufig scheitere das an den Kosten.

Psychiaterin Fana Asefaw teilt diese Kritik: «Es gibt noch zu wenig Netzwerke.» Mitarbeitende aus dem Asyl-, Sozial- und Gesundheitswesen müssten enger zusammenarbeiten. Doch sie ist Realistin genug und erwartet nicht allzu viel. «Junge Frauen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben aus Afrika fliehen, sind der Gewalt schutzlos ausgeliefert», sagt Asefaw. «Solange die grossen Fragen der Migration ungelöst sind, mache ich Sisyphusarbeit.»

Bundesrat muss Stellung nehmen

Flüchtlingsfrauen, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind, sind auch in der Politik ein Thema. Die Aargauer SP-Nationalrätin Yvonne Feri verlangt vom Bundesrat einen Bericht zur Betreuung von Betroffenen in Asylbewerberzentren. Der Rat hat das Postulat überwiesen.

«Die Frauen sind der Gewalt und der Ausbeutung offenbar nicht nur im Krisengebiet ausgesetzt, sondern teils auch auf der Flucht und im Land, in dem sie Asyl beantragen», sagt Yvonne Feri. 

Unklar sei, wie gezielt Betreuung, Behandlung und Unterstützung betroffener Frauen in der Schweiz sind.

Mögliche Massnahmen wären laut Feri separate Unterkünfte für alleinstehende Frauen und Familien respektive die bessere Schulung von Betreuenden.

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Raphael Brunner, Redaktor
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