Zurück auf Feld eins! Die Schweiz diskutiert im Jahr 2022 ernsthaft darüber, ob Bundesrätinnen und Bundesräte schulpflichtige Kinder haben dürfen. Auch Moritz Leuenberger grätscht in die Debatte. Gegenüber «Bajour» sagte der Sozialdemokrat: «Nein, ein Bundesrat kann niemals ein guter Vater sein.» Wen kümmert das Work-Life-Balance-Geschwätz von gestern?

Es ist bizarr: Obschon wir uns bei jeder Gelegenheit rühmen, wie hierzulande die Macht auf sieben Schulterpaare verteilt ist, gleicht das Anforderungsprofil für eine Bundesrätin oder für einen Bundesrat demjenigen eines Duracell-Häschens, das niemals schläft – und ganz bestimmt keine Butterbrote für den Nachwuchs schmiert. Das Amt sei allumfassend, sagte der Appenzeller Ständerat Andrea Caroni (FDP) im «Tages-Anzeiger» feierlich: «Jede Minute, die Sie mit Ihrem Kind verbringen, ist eine Minute, in der Sie nicht regieren.»

Schon Christoph Blocher (SVP) glaubte an seine Berufung als Bundesrat. Wie Märchenkönig Artus, der als Einziger befähigt war, das legendäre Schwert Excalibur aus dem massiven Amboss zu befreien, akzeptierte der Herrliberger demütig sein Schicksal, den Karren notfalls im Alleingang aus dem Dreck zu ziehen. Blocher wollte nicht, er musste. Gemessen an diesem Selbstverständnis wären Regierungsvertreter nicht Gewählte – sondern gleichsam Auserwählte. Natürlich ist das kompletter Unfug.

Von wegen schlechtes Timing 

Wie absurd überhöht die Erwartungen an eine Bundesrätin bisweilen sind, zeigte sich vor zwei Wochen an der Pressekonferenz von Simonetta Sommaruga (SP). Die Umweltministerin hört Ende Jahr auf, um sich um ihren schwer erkrankten Mann zu kümmern. Die erste Journalistenfrage lautete, was sie jenen erwidere, die ihren Rücktritt nach zwölf Jahren im Amt und während einer ungelösten Energiekrise als schlechtes Timing bezeichneten. Simonetta Sommaruga konterte die Unverschämtheit mit einer freundlichen Nichtigkeit.

Ebenso unangebracht ist die Mär von der Bodenständigkeit des Bundesrats. Genährt wird dieser Schweizer Mythos bis heute vom Bild der tramfahrenden Landesmütter und -väter. Offensichtlich ist dieses Bild nichts wert. Sonst liesse sich SP-Co-Präsident Cédric Wermuth im «Sonntags-Blick» kaum mit der Aussage zitieren, der Job einer Bundesrätin oder eines Bundesrats lasse sich in der Schweiz nur schwer mit einem intakten Familienleben vereinbaren.

Der CEO des Bundesbetriebs Postfinance kassierte letztes Jahr 832’046 Franken, das ist fast doppelt so viel, wie eine Bundesrätin verdient. Dennoch gab es – völlig zu Recht – keinen Aufschrei, als Hansruedi König vor einem Jahr auf Tiktok kundtat, er verbringe seine (spärliche) Freizeit am liebsten mit der Familie beim Biken oder beim Langlaufen.

Es wäre ja gar nicht so schwierig. Jacinda Ardern, die neuseeländische Premierministerin, brachte im Amt ein Kind zur Welt. Und in Finnland regiert mit Sanna Marin die Mutter einer vierjährigen Tochter. Von Marin ist zwar nicht bekannt, ob sie wie ihre Schweizer Amtskolleginnen und -kollegen mit dem Tram zur Arbeit fährt. Dafür weiss man, dass sie ab und zu auch mal auf einer Privatparty ausgelassen feiert. Darunter sollte es die Schweiz nicht länger machen. Das geht nur mit einer Entzauberung des Amts. Oder mit einer Aufstockung beim Personal: Wenn Bundesräte keine Zeit zum Tanzen haben, gibt es zu wenige davon.

Am 7. Dezember wird in der Schweiz keine neue Königin gekrönt. Auch befindet sich das Land nicht auf der Suche nach dem nächsten Dalai-Lama. Es werden lediglich recht wichtige Jobs vergeben. Im besten Fall an die dafür am besten geeigneten Kandidatinnen oder Kandidaten. Wer auch immer danach im Nationalratssaal die Annahme der Wahl verkündet, bleibt ein Mensch unter Menschen – und soll das Familienbüchlein behalten dürfen.
 

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Peter Aeschlimann, Redaktor
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