Beobachter: Frau Zimmermann, vom Rahmenabkommen hängt Ihrer Meinung nach die Zukunft der Schweiz ab. Übertreiben Sie da nicht?
Laura Zimmermann: Nein, wir müssen unser Verhältnis mit der EU updaten. Das können wir nur, wenn wir dem Rahmenabkommen zustimmen.

Was ist konkret gefährdet?
Zimmermann: Es geht um die Frage, ob das Abkommen den Interessen der Schweiz dient oder nicht. Unsere bilateralen Verträge sind veraltet, viele davon sind statisch. Doch in den letzten 20 Jahren hat sich das EU-Recht weiterentwickelt. Darum brauchen wir dynamische Anpassungen und ein institutionelles Dach, um die europäische Integration sicherzustellen. Vor allem eröffnet uns das Abkommen die Möglichkeit, bei Streitigkeiten ein Schiedsgericht anzurufen. Das stärkt unsere Position.
Cédric Wermuth: Eine Weiterentwicklung befürworte ich grundsätzlich auch. Dieses Rahmenabkommen ist aber ein Rückschritt. Ich habe etwas Mühe mit der Dramatisierung. Schon seit zehn Jahren wird behauptet, der bilaterale Weg Bilaterale Verträge So entscheidet die EU sei am Ende. Heute geht es der Schweiz im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gut. Und für mich gibt es «das Interesse der Schweiz» nicht. Die Interessen des Paradeplatzes sind mit Sicherheit nicht identisch mit den Interessen eines Aargauer Schreiners. Vor allem aber gefährdet das Abkommen eine wichtige soziale Errungenschaft: den Lohnschutz.

Warum?
Wermuth: Neu müsste die Schweiz die sogenannten Durchsetzungs- und Entsenderichtlinien übernehmen, und der Europäische Gerichtshof könnte darüber entscheiden, ob die flankierenden Massnahmen verhältnismässig sind. Diese Massnahmen haben Linke und Gewerkschaften durchgesetzt, damit die Personenfreizügigkeit nicht zu Lohndumping führt. Das wäre eine massive Senkung des Schutzniveaus. Vergessen wir nicht: Die Lohndifferenzen sind enorm. Der Durchschnittslohn ist bei uns 7490, in Deutschland 4030 Franken.
Zimmermann: Das sehe ich ganz anders. Man kann das Rahmenabkommen EU-Rahmenvertrag Darum streitet die Schweiz mit der EU befürworten und trotzdem für den Lohnschutz eintreten. Ich vermisse hier den Willen, mit der EU auszuloten, was noch möglich wäre. Die EU erlaubt ja Begleitmassnahmen, wenn sie verhältnismässig, begründet und nicht diskriminierend sind.

Zum Beispiel?
Zimmermann: Ich denke etwa an die Ausdehnung von Gesamtarbeitsverträgen auf weitere Branchen. Wir könnten die Kontrollen bei der Anmeldefrist erhöhen und zusätzliche haftungsrechtliche Massnahmen beschliessen. Auch könnten wie in Belgien die Kontrollen auf Baustellen mittels Badge erfolgen, um Zeit zu sparen.
 

«Es geht hier um das Europa der Menschen gegen das Europa der Banken und Lohndumper.»

Cédric Wermuth, Nationalrat SP


An welche haftungsrechtlichen Massnahmen denken Sie konkret?
Zimmermann: Wie das im Detail aussehen könnte, kann ich noch nicht sagen. Ich bin da nicht Expertin. Aber es geht doch darum, zusammenzusitzen und zu schauen, ob es Lösungen gibt.
Wermuth: Nein, solche Massnahmen müssten letztlich vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben. Wir sehen aber, dass er in den vergangenen Jahren die Wirtschaftsfreiheit immer wieder höher gewichtet als den Lohnschutz. GAV-Bestimmungen sind sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen. Man kann Strafen im Nachhinein im Ausland nur schwer durchsetzen. Das öffnet Tür und Tor für Missbrauch. Wirksamen Schutz bietet nur die derzeit geltende Kautionsregelung. Sie aber würde mit dem Rahmenabkommen weitestgehend abgeschafft.
Zimmermann: Was wäre denn die Alternative zur Unterzeichnung des Abkommens? Wie soll unser Verhältnis zur EU gesichert werden? Auf diese Fragen haben die Gegner keine Antworten.

Wir haben 20 bilaterale Verträge und über 100 weitere Abkommen. Das sind doch gesicherte Verhältnisse?
Zimmermann: Sichere Verhältnisse erhalten wir nur mit Rechtssicherheit – und die erhalten wir nur mit dem Rahmenabkommen. Die EU ist sonst am längeren Hebel. 53 Prozent unserer Exporte gehen in die EU. Bei der EU sind es aber nur 8 Prozent in die Schweiz. Ohne Rahmenabkommen wird es keine zusätzlichen Verträge geben.
 

«Die EU ist nicht perfekt, sie muss sich weiterentwickeln. Aber sie ist ein Friedens- und Wohlstandsprojekt.»

Laura Zimmermann, Co-Präsidentin Operation Libero


Braucht es denn neue Verträge?
Zimmermann: Ja, natürlich. Fragen Sie zum Beispiel mal bei der Strombranche. Vor allem aber würden künftig Konflikte durch Recht und nicht durch Macht entschieden. Streitfälle mit der EU würden durch ein paritätisch besetztes Schiedsgericht entschieden.
Wermuth: Viele Fragen werden heute im gemischten Ausschuss erledigt. Der zentrale Punkt ist: Wir führen hier eine Auseinandersetzung nicht zwischen der Schweiz und der EU, sondern zwischen den Kräften für ein soziales Europa und denjenigen, die dagegen sind. Der Europäische Gerichtshof, Teile der EU-Kommission und die Rechte in der Schweiz haben das gleiche Ziel: die Wirtschaftsfreiheit der Unternehmer gegen den Lohnschutz und Arbeitnehmerrechte durchsetzen. Diese Politik finde ich verheerend.

Was genau ist schlimm daran?
Wermuth: Sie ist der Grund dafür, dass Europa auseinanderzufallen droht. Das Festhalten an den Lohnschutzkontrollen ist ein Beitrag zur Durchsetzung der europäischen sozialen Säule. Die europäischen Gewerkschaften haben uns übrigens explizit darum gebeten, nicht nachzugeben. Weil für sie das Schweizer Modell Vorbildcharakter hat. Wir müssen Verantwortung übernehmen für die europäische Frage.
Zimmermann: Was genau ist diese europäische Frage?
Wermuth: Vor zehn Jahren hätte ich nicht gedacht, dass die europäische Integration ernsthaft gefährdet werden könnte. Das ist heute aber so. Es gibt keine progressive Rückkehr zum Nationalstaat. Es ist aber falsch, zu sagen, es gibt nur die Alternative zwischen dem neoliberalen Europa und dem reaktionären Nationalstaat. Die Antwort ist ein Europa der starken Sozialstaaten.
Zimmermann: Für dich ist die EU nur ein gutes Projekt, wenn es eine soziale EU nach deinen Vorstellungen ist; sonst ist sie gleich neoliberal. Das sehe ich anders. Die EU ist nicht perfekt, sie muss sich weiterentwickeln. Aber sie ist ein Friedens- und Wohlstandsprojekt.

Wo ist da der Zusammenhang mit dem Rahmenabkommen?
Wermuth:
Die Regierung Blair war stolz darauf, die Personenfreizügigkeit ohne flankierende Massnahmen eingeführt zu haben. Das hat mit zum Brexit geführt. Genau darum hat unsere Lösung mit der EU Vorzeigecharakter.
 

«Am Ende ohne Abkommen dazustehen schadet den Menschen in der Schweiz.»

Laura Zimmermann, Co-Präsidentin Operation Libero


Mit dem Ist-Zustand fahren wir doch gut?
Zimmermann: Nein, das ist genau die Lebenslüge in der schweizerischen Europapolitik. Der autonome Nachvollzug und statische bilaterale Verträge sind keine Lösung. Wir übernehmen ständig Regelungen, bei denen wir nicht mitbestimmen konnten.

Wo hat das zu wirtschaftlichen Nachteilen geführt?
Zimmermann:
Es ist einfach eine wirtschaftliche Abhängigkeit, die gegeben ist. Das wird Ihnen jede exportorientierte Firma sagen können. Das Rahmenabkommen ist gegenüber dem heutigen Zustand ein Fortschritt. Wir wollen ja als Schweiz Teil sein von Europa. Wenn wir nicht unterzeichnen, wird die EU die vielen Möglichkeiten nutzen, uns zu piesacken. Das sehen wir derzeit gut am Beispiel von Grossbritannien.

«Mit dem Rahmenvertrag kippen wir in eine Richtung, die ich für gefährlich halte.» 

Cédric Wermuth, SP-Nationalrat


Mit diesen Nadelstichen müssen wir aber schon seit Jahren umgehen.
Zimmermann: Vielleicht, aber das ist für mich die schlechtere Alternative. Am Ende ohne Abkommen dazustehen schadet den Menschen in der Schweiz. Wir brauchen es. Wenn wir zu lange über einzelne Lohnschutzmassnahmen diskutieren, verlieren wir das grosse Ganze aus den Augen. Wir sind uns alle einig, dass wir einen möglichst guten Marktzugang in die EU wollen. Dazu gehörten Rechtssicherheit und dynamisierte Rechtsverhältnisse.
Wermuth: Wichtig ist vor allem die Einsicht, dass wir längst Teil der europäischen Diskussion sind. Und hier geht es um das Europa der Menschen gegen das Europa der Banken und Lohndumper. Mit dem Rahmenvertrag kippen wir in eine Richtung, die ich für gefährlich halte.

Zu den Personen

Laura Zimmermann ist Co-Präsidentin der Operation Libero, die progressive Kräfte für eine offene und liberale Schweiz unterstützen will. Die 27-jährige Juristin machte sich stark gegen die Selbstbestimmungsinitiative, die im November 2018 an der Urne scheiterte.

Laura Zimmermann

Quelle: Hanna Jaray

Cédric Wermuth ist SP-Nationalrat und Mitglied der Staatspolitischen Kommission. Der 33-jährige Politologe wird dem linken Flügel der Sozialdemokraten zugerechnet und kandidiert unter dem Motto «Eine Schweiz der Menschen statt der Profite» für den Ständerat.

Cédric Wermuth

Quelle: Hanna Jaray
Die wichtigsten Begriffe zum Thema

Rahmenabkommen

Es legt fest, wie die Schweiz in Zukunft Neuerungen des EU-Rechts übernehmen soll. Bisher müssen dazu die Verträge nachverhandelt werden. Zudem zeigt es, wie Streitigkeiten über die bilateralen Verträge künftig gelöst werden.

Bilateraler Weg

Mit dem Freihandelsabkommen wurde 1972 die Basis für den wirtschaftlichen Austausch mit der EU gelegt. Nach der Ablehnung des EWR-Abkommens 1992 entwickelte die Schweiz ihre Beziehungen zur EU weiter und vertiefte sie mit den Bilateralen I (1999) und II (2004) sowie weiteren Abkommen.

Flankierende Massnahmen

Sie sollen sicherstellen, dass sich ausländische Firmen in der Schweiz an die hiesigen Lohn- und Arbeitsbedingungen halten. Dazu müssen sie es den Behörden melden, wenn sie hier arbeiten wollen, in besonders gefährdeten Branchen acht Tage im Voraus. Damit Sanktionen durchsetzbar sind, müssen die Firmen teils eine Kaution leisten.

Personenfreizügigkeit

Sie garantiert Schweizern und EU-Bürgern grundsätzlich, Arbeitsplatz und Wohnort frei wählen zu können. Seit 2002 ist Arbeit ohne Bewilligung möglich.

Lohnschutz

Die Schweiz hat die höchsten Löhne in Europa. Zu ihrem Schutz wurden mit den Bilateralen auch die sogenannten flankierenden Massnahmen eingeführt. Der Bundesrat hatte vor der ersten Abstimmung über die Bilateralen einen «umfassenden Schutz vor Lohn- und Sozialdumping» versprochen.

Schiedsgericht

In Streitfällen zwischen der Schweiz und der EU soll gemäss Rahmenabkommen ein paritätisches Schiedsgericht entscheiden, in dem gleich viele Schweizer und EU-Richter sitzen. Wenn der Streit EU-Recht betrifft, soll sich das Schiedsgericht an die Auslegung des Europäischen Gerichtshofs halten.

Gemischter Ausschuss

Vertreter der Schweiz, der EU-Kommission und von EU-Mitgliedstaaten sitzen mindestens einmal pro Jahr zusammen, um Anwendungsfragen der Personenfreizügigkeit zu erörtern.