Beobachter: Carla Del Ponte, wir hätten Ihnen heute sehr gerne persönlich den «Prix Courage Lifetime Award» für Ihr Lebenswerk überreicht, leider sind Sie erkrankt und können nicht an der Gala teilnehmen. Wie geht es Ihnen?
Carla Del Ponte: Ich bin einfach erkältet, das kommt schon wieder. Aber ich bedaure sehr, dass ich nicht anwesend sein kann. Ich hätte den Preis gerne persönlich entgegengenommen.


Die Auszeichnung ist mit 10’000 Franken dotiert. Was haben Sie mit dem Preisgeld im Sinn?
Vor ein paar Jahren habe ich im Libanon an der Grenze zu Syrien Familien getroffen, die dort unter schlimmsten Umständen hausten und einfach sich selbst überlassen wurden. Seit ein paar Jahren unterstütze ich die «Association pour la protection de l’enfant de Guerre», die dort aktiv ist. Mit diesem Preisgeld wird sich dort viel Gutes bewirken lassen.


Sie haben Ihr mutiges Engagement teuer bezahlt. Sie wurden bedroht, beschimpft und lebten Jahre lang isoliert. Wann wurde Ihnen bewusst, wie hoch der Preis ist, den Sie bezahlen?
Ich habe das zum Glück selbst gar nie realisiert, weil ich nicht unter diesen Umständen litt. Sonst hätte ich wohl aufgehört.


Sie haben so viele Verbrechen und Grausamkeiten gesehen – glauben Sie noch an das Gute im Menschen?
Aber natürlich! Ich habe ja nicht nur Übeltäter und Kriminelle getroffen, sondern auch immer wieder gute, mutige Menschen.


Manchmal geraten mutige Menschen mit dem Gesetz in Konflikt, zum Beispiel Flüchtlingshelfer im Zusammenhang mit der Seenotrettung auf dem Mittelmeer. Wie ordnen Sie solche Taten ein?
Ich begrüsse solche Aktionen, sie lösen natürlich das Problem nicht, aber es sind positive Provokationen, die den Druck auf die Politik erhöhen können.


Sie sagen oft, als Staatsanwältin gehorchten Sie immer und ausschliesslich dem Gesetz – unter welchen Umständen wären Sie bereit, das Gesetz zu brechen?
Nie.


Unter keinen Umständen?
Nein. Ich bin durch und durch Legalistin. Aber wie gesagt, ich begrüsse solche Taten. Hier im Tessin wurde auch eine Flüchtlingshelferin verurteilt. Man hat die Strafe auf das Minimum reduziert, aber das Recht muss halt durchgesetzt werden.


In den letzten Tagen ist in Syrien viel passiert, zuerst der Einmarsch der Türken ins Kurdengebiet, dann wurde IS-Chef Al-Baghdadi von einer US-Spezialeinheit getötet. Wie sehen Sie diese Entwicklungen?
Al-Baghdadis Tod ist sicher positiv, noch besser wäre es aber gewesen, wenn man ihn verhaftet und vor ein Gericht gestellt hätte. So hätte man besser Informationen und Erkenntnisse gewinnen können. Zudem haben die Terroristen ja bereits wieder einen Nachfolger ernannt. Und die Türkei verletzt mit ihrem Vorgehen internationales Recht, aber alle schweigen.


Sie sagten kürzlich in einem Interview, die Genfer Konvention werde in Konflikten immer häufiger missachtet. Worauf führen Sie das zurück?
Das hat verschiedene Ursachen, vor allem aber haben die Menschenrechte in der Politik nicht mehr dieselbe Priorität wie früher, der Respekt dafür schwindet. Das ist ein grosser Schaden für die Menschlichkeit. Und die internationale Justiz existiert kaum mehr. Sehen Sie sich Afghanistan an. Da erklärte der internationale Strafgerichtshof unlängst, es sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht im Interesse der Justiz zu ermitteln – wie bitte?!?


Das klingt nach einer Bankrotterklärung.
Absolut.


Was fordern Sie nun von der Schweiz im Zusammenhang mit dem türkischen Vorgehen in Syrien?
Dass sie Sanktionen ergreift, am besten gemeinsam mit der EU. Und dass wir sicher jegliche Waffenlieferungen an die Türkei einstellen. Immerhin sitzen Opposition und Regierung nun in Genf endlich an einem Tisch. Wenigstens dies ist erfreulich.

Carla Del Ponte – Gewinnerin «Prix Courage Lifetime Award 2019»

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Quelle: Brightcove

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