Der Grund, weshalb Tiago Santiago jeden Tag aufsteht, rennt gerade im Zickzack über die Wiese. Die Ohren fliegen, der Schwanz propellert: Windhund Jerry ist in seinem Element. «Für mich ist er so etwas wie ein Therapiehund», sagt sein Herrchen. Der 24-Jährige hat «schwierige Zeiten» hinter sich. Ins Detail möchte er nicht gehen, aber er habe deshalb seine Ausbildung zum Kinderbetreuer abbrechen müssen.

Mit Jerry habe er sich einen Kindheitstraum erfüllt. Aber nicht nur: Er wusste, dass ein Tier, um das er sich kümmern muss, seinem Alltag mehr Struktur geben würde. Das sei für ihn wichtig. «Es gibt Tage, da schaffe ich es fast nicht aus dem Bett, weil in mir innen Weltuntergang herrscht.»

Jerry ist ein Tierschutzhund aus Spanien. Er landete schwer misshandelt in einer Auffangstation im Aargau. Dort habe nicht er ihn ausgesucht, sondern Jerry ihn, sagt Santiago. «Bei meinem ersten Besuch hat er mich zunächst ignoriert, sich dann aber hinter meinen Beinen versteckt, als eine Familie mit Kindern den Raum betrat und er erschrak.» Zwei verletzte Seelen fanden zueinander. «Wie im Märchen.»

«Tiere können eine wichtige Stütze für Menschen sein und ihnen helfen, den Tritt nicht zu verlieren.»

Beat Handschin, Geschäftsführer Stiftung SOS Beobachter

Bald zeigte sich: Auch Jerry hat seine Probleme. «Allein zu Hause bleiben löst bei ihm grosse Ängste aus. Er macht zum ersten Mal positive Erfahrungen mit Menschen und will mich auf keinen Fall verlieren», sagt Tiago Santiago. Das Problem: Santiago ist ehrenamtlich Juniorenkoordinator beim FC Oetwil-Geroldswil, trainiert zwei Mannschaften und steht fast täglich auf dem Platz. Sein ÖV-Abo übernimmt die Sozialhilfe, denn Freiwilligenarbeit wird gefördert. Das Billett für den Hund zahlte aber niemand. Die Stiftung SOS Beobachter sprang in die Bresche.

«Tiere können eine wichtige Stütze für Menschen sein und ihnen helfen, den Tritt nicht zu verlieren», sagt der neue SOS-Geschäftsführer Beat Handschin im Interview. Wenn man Spenden für Tiere einsetze, helfe man immer auch den Menschen.

Zahlreiche Studien geben ihm recht. Tiere haben keine Vorurteile, sie lieben bedingungslos. Das tut den Haltern und Halterinnen gut. Sie bekommen mehr Selbstwertgefühl und kriegen Ängste besser in den Griff. Tiere helfen zudem als Türöffner. Auf dem Hundespaziergang kommt man mit anderen ins Gespräch, ohne nach Themen suchen zu müssen – die stehen daneben und beschnüffeln sich.

Kleine Helfer

Für Unterhaltung und zwischenmenschliche Kontakte können auch Meerschweinchen sorgen. Das zeigt die Geschichte von Jonas Pfister* (Name geändert). Der 10-Jährige lebt mit seiner Mutter Jolanda* in einer Blockwohnung in Basel. Sie arbeitet im Detailhandel, doch das Budget ist knapp, zeitweise griff ihr die Sozialhilfe unter die Arme.

Jonas hatte wenig Freunde, ein verbreitetes Phänomen bei armutsbetroffenen Kindern. «Mich fragte nie jemand, ob ich mitspielen will», erzählt er. Das änderte sich schlagartig, als die Mutter ihm einen lang gehegten Wunsch erfüllte: Zwei Meerschweinchen, Schwurbel und Zora, zogen bei den Pfisters ein.

Die laufenden Kosten waren einkalkuliert, für die Unterbringung der Tiere aber fehlte das Kleingeld. SOS Beobachter sorgte dafür, dass die Meerschweinchen einen doppelstöckigen Stall beziehen konnten. Geholfen war damit auch Jonas. «Plötzlich kamen ganz viele Kinder zum Spielen zu mir!»

Nicht nur die: Gefühlt die halbe Stadt kam zu Besuch. Der Grund: Zora und Schwurbel hatten Nachwuchs. Alle wollten die zwei Meerschweinchen-Babys sehen. Jonas und sein bester Freund veranstalteten sogar eine kleine Geburtstagsparty – inklusive Kuchen, Kerzen und Gesang.

Haustiere vom Sozialhilfe-Grundbedarf ausgeschlossen

Dumm war: Die Babys waren Böckchen. «Der Tierarzt sagte, man müsse sie nach drei Wochen von der Mutter trennen, da sie dann bereits zeugungsfähig seien», erzählt Jolanda Pfister.

Also erweiterte sie den Stall. Die beiden aber waren wohl etwas frühreif, und Zora warf unerwartet vier weitere Junge. Stress pur – nicht nur für das Meerschweinchen. «Sie frassen Unmengen an Gemüse, Salat, Körnern, Heu und rissen so ein Loch in meine Kasse. Zudem fand ich diese Inzucht furchtbar», sagt Jolanda Pfister.

Das Geld fehlte, um alle zu kastrieren. Es blieb nichts anderes übrig, als die Jungen abzugeben. «Jonas war am Boden zerstört und hat lange getrauert», sagt die Mutter. Inzwischen scheint die Welt wieder in Ordnung. Wohl sind die kleinen Meersäuli weg – aber viele von Jonas’ neuen Freunden sind geblieben.

Tiere können zu sozialer Integration beitragen. Das zeige die Geschichte von Jonas Pfister sehr schön, findet SOS-Geschäftsführer Beat Handschin. Typisch sei auch: Die meisten Gesuche, die Tiere betreffen, stammen von Sozialhilfebeziehenden. Sie haben keine Reserven, und Kosten für Haustiere sind in der Regel vom Grundbedarf ausgeschlossen. «Wenn ein Tier plötzlich krank wird und medizinische Hilfe benötigt, sind sie oft nicht in der Lage, dafür aufzukommen», sagt Handschin. Wenn es um grosse Beträge gehe, bitte die Stiftung aber um einen Finanzierungsplan mit weiteren Organisationen, die mithelfen könnten.

Faule Zähne

Bei Benilda Müller und ihrer Hündin Chiquita war das nicht nötig. «Mi niña», mein Mädchen, nennt die gebürtige Honduranerin ihre Wegbegleiterin, einen Chihuahua-Rattler-Mix. Sie sei fast wie ein fünftes Kind für sie – ein Muttertagsgeschenk ihrer vier richtigen Kinder. Für den Pressetermin hat sie die Hundedame extra frisch gebadet. Diese läppelt nun fröhlich Wasser aus dem mitgebrachten Napf. Das frischeste an Chiquita sind aber ihre Zähne: Blitzeblank, von Zahnstein befreit, zeigt sie sie brav der Tante vom Beobachter. Fünf Zähne fehlen. Sie waren faul und mussten gezogen werden. Die ganze Prozedur ging nur unter Vollnarkose – und ins Geld.

«Chiquita ist mein Ein und Alles.»

Benilda Müller mit Chihuahua-Rattler-Hündin Chiquita

Benilda Müller mit Chihuahua-Rattler-Hündin Chiquita

Quelle: Joël Hunn

Benilda Müller konnte sich das nicht leisten. Die 59-Jährige arbeitete als Hausangestellte, später in Wäschereien, Hotels und Privathaushalten als Reinigungskraft. Zuletzt war sie selbständig mit der Firma, die sie mit ihrem Mann gegründet hatte. Doch dann ging die Ehe in die Brüche. Auf sich allein gestellt, musste Benilda Müller sich bei der Sozialhilfe anmelden. Ihre erwachsenen Kinder können ihr nicht helfen. Sie müssen selber jeden Franken zweimal umdrehen. Doch Chiquita leiden lassen – das kam nicht in Frage. «Sie ist mein Ein und Alles. Ich lebe ganz allein», sagt Benilda Müller. SOS Beobachter übernahm die Tierarztkosten und konnte so auch hier beiden helfen.

Das vielleicht beste Beispiel dafür, dass Tiere Menschen einfach guttun, ist aber wohl Windhund Jerry. Der trägt nicht nur sein Herrchen Tiago Santiago durch dunkle Stunden, sondern heitert auch regelmässig die Fussballjunioren auf. «Er gibt nach jedem Spiel Vollgas, rennt übers Feld und bringt alle zum Lachen, auch wenn es mal nicht so gut gelaufen ist.» Eine Art Co-Trainer für die Stimmung.

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