Drängeln, Lichthupen, Staus: für viele Autofahrerinnen und Autofahrer eine tägliche Erfahrung. Über 40 Prozent der Autofahrerinnen und Autofahrer haben im Strassenverkehr schon einmal die Nerven verloren, zeigt eine aktuelle deutsche Studie zum Verkehrsklima. Hierzulande dürfte es ähnlich sein, sagt Andreas Widmer, Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Verkehrspsychologie. Das gereizte Klima wirkt sich auch auf die Leute vom Strassenunterhalt aus: «Bauarbeiter werden vermehrt beschimpft, teilweise gar mit PET-Fläschchen beworfen», sagt Thomas Maag, Mediensprecher der Baudirektion Zürich. Er sieht den Anlass für die blanken Nerven im steigenden Verkehrsaufkommen, das gerade bei Baustellen oft zu Staus führt.

Der Pegel der Aggressionen steigt

Tatsächlich hat die Zahl der Motorfahrzeuge auf Schweizer Strassen seit dem Jahr 2000 um 30 Prozent zugenommen – von 4,8 Millionen auf 5,98 Millionen Ende 2016. Derweil ist das Strassennetz mit über 70'000 Kilometern Länge praktisch unverändert geblieben (Stand Ende 2016). Die Autobahnen, auf denen 40 Prozent des Verkehrs stattfinden, stiessen in den Spitzenzeiten an ihre Kapazitätsgrenzen, sagt Thomas Rohrbach, Mediensprecher des Bundesamts für Strassen (Astra): Zwischen 1990 und 2010 hat sich die Anzahl gefahrener Kilometer auf den hiesigen Autobahnen verdoppelt. Und alleine zwischen 2013 bis 2016 hat die Anzahl gefahrener Kilometern auf Nationalstrassen von 25 auf 27 Milliarden Kilometer zugenommen. Dies entspricht einer Zunahme von fast 8 Prozent.

Fazit: Es wird eng auf den Schweizer Strassen – und damit steigt kontinuierlich der Pegel von Frustration und Aggression. Schuld daran sind hauptsächlich lange Wartezeiten und Behinderungen, wie eine Astra-Untersuchung zum Thema «Aggressionen im Verkehr» zeigt. Häufig sorgen aber auch die anderen Verkehrsteilnehmer durch ihr Verhalten für Ärger. «Je mehr Menschen sich im Strassenverkehr begegnen, desto wahrscheinlicher sind Provokationen und Missverständnisse», erklärt der Basler Verkehrspsychologe Urs Gerhard. Als besonders lästig und nervenaufreibend werden Drängler empfunden sowie Automobilistinnen und Automobilisten, die trotz ausreichender Lücke auf der rechten Fahrspur die linke Spur blockieren.

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Quelle: Thinkstock Kollektion
Die Ruhe bewahren

Die Möglichkeiten, die Verkehrssituation mit baulichen Massnahmen zu entspannen, sind laut Astra-Sprecher Thomas Rohrbach begrenzt: «Der Ausbau der Nationalstrassen hat Grenzen, sonst betonieren wir die Landschaft zu. Das hohe Verkehrsaufkommen ist eine Realität, die wir nicht ändern können.» Umso mehr gilt daher sein Rat an sämtliche Verkehrsteilnehmer: «Gelassenheit ist angesagt, heute mehr denn je.»

So bleiben Sie im Verkehrschaos ruhig
  • Verkehrspsychologe Urs Gerhard rät, «möglichst emotionslos» Auto zu fahren. Ein wichtiger Schlüssel dazu ist für ihn der Zeitfaktor: «Es lohnt sich, zeitig loszufahren, denn unterwegs Zeit aufholen zu wollen ist schlicht unrealistisch.» Thomas Rohrbach vom Astra überholt im dichten Verkehr auf der Autobahn schon seit Jahren nicht mehr; er fährt inmitten der Lastwagen auf der rechten Spur mit Tempo 85 zur Arbeit. «Die paar Minuten, die ich durch ständiges Überholen gewinnen würde, sind mir das Risiko und den Stress nicht wert.» Lieber kommt er entspannt im Büro an.
  • Nervenschonend wirkt auch die Bereitschaft, sich in andere Verkehrsteilnehmer hineinzuversetzen und ihnen nicht das Schlechteste zu unterstellen. Viele vermeintliche Provokationen beruhen eigentlich auf Missverständnissen, wie die Autoren der Astra-Studie festhalten. So wird sich die Lenkerin, der ein Rechtsvortritt nicht gewährt wird, weniger aufregen, wenn sie sich sagt, der andere habe wohl angenommen, dass eine breite Strasse automatisch mit dem Vortrittsrecht einhergehe.
  • Entspannung brächte auch die Einsicht, dass nicht immer eine Person an einem Fehlverhalten schuld ist; auch die äusseren Umstände können dazu beitragen. Die Sozialpsychologie spricht in diesem Zusammenhang von einem «fundamentalen Attributionsfehler»: Nehmen Menschen in ihrem Umfeld Fehler wahr, neigen sie dazu, diese Fehler anderen Personen und deren Einstellungen anzulasten, statt die Hintergründe zu hinterfragen. Bei sich selbst tun sie es allerdings genau umgekehrt – eigenes Fehlverhalten führen sie bevorzugt auf die Umstände zurück.
  • Das eigene, vermeintlich unschuldige Fahrverhalten kann durchaus als aggressiv empfunden werden und bei anderen Ärger auslösen. «Beim Autofahren weichen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung oft stark voneinander ab», sagt Psychologe Urs Gerhard. Er empfiehlt, routinemässig viel Abstand zu halten, die Strasse oder die Überholspur nicht zu blockieren, wenn möglich nicht zu hupen und provozierende Gesten zu unterlassen.
  • Erlebt man auf der Strasse trotz diesen Vorkehrungen starke Frustration oder Wut, sollte man laut Gerhard versuchen, durchzuatmen und zu warten, bis das Gefühl abebbt. Wenn man das Fehlverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers als gemeingefährlich einschätze, könne man sich dessen Autonummer notieren und die Polizei informieren. «Auf jeden Fall aber sollte man davon absehen, dem anderen gegenüber zu schulmeistern, weil das zu einer Eskalation führen kann.» Stattdessen sollte man innerlich bei sich bleiben und sich um die eigene Sicherheit und den Verkehrsfluss kümmern.

Oft genügen all diese Strategien nicht, um im Strassenverkehr die Nerven zu behalten. Dann sollte man unter Umständen weitergehende Massnahmen ins Auge fassen, meint Verkehrspsychologe Urs Gerhard. Sind die Emotionen sehr belastend und wiederkehrend oder schlagen sie sich gar direkt auf die Fahrsicherheit nieder, weil man beispielsweise die Geduld verliert und gefährlich überholt, könnte sich der Gang zum Psychotherapeuten lohnen. «Wenn Menschen sich im Verkehr immer wieder übervorteilt fühlen, fühlen sie sich vermutlich auch sonst im Leben entsprechend.» Die anderen Verkehrsteilnehmer würden zur Projektionsfläche, mitunter auch bei Problemen mit dem Chef, dem Ehepartner oder anderen Personen. Gespräche fördern die Selbsterkenntnis und einen konstruktiveren Umgang mit Emotionen. Beides wiederum, so Gerhard, sei auch wichtig für den Erfolg in der Beziehung und im Berufsleben. Der Experte hat auch noch eine praktische Idee: Alternativen ausprobieren, zum Beispiel versuchsweise mit dem öffentlichen Verkehrsmittel oder mit dem Velo zu fahren. Unter Umständen komme man zum Schluss, dass trotz allem die Vorteile des Autofahrens überwiegen. Oder man lasse das Auto in Zukunft in der Garage stehen.

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Chantal Hebeisen, Redaktorin
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