Ja-Stimmen: 59, Nein-Stimmen: 0. Mit diesem Ergebnis hat das Urner Kantonsparlament Ende April einer Motion zum Gotthard-Stau zugestimmt. Solche Abstimmungsergebnisse gibt es sonst nur in totalitären Staaten – oder dann, wenn sich die Abstimmenden sehr, sehr einig sind. Das scheint bei dieser Abstimmung der Fall gewesen zu sein.

Mit ihrem Entscheid verlangen die Urner vom Bund, ein Voranmeldesystem für die Durchfahrt am Gotthard zu prüfen. Der Kanton Uri wird demnächst eine Standesinitiative einreichen, das Bundesparlament wird sich mit dem Anliegen auseinandersetzen müssen. Die Urnerinnen und Urner sind wütend. Es plagt sie die Blechlawine, die sich auf der Gotthard-Autobahn durch ihren Kanton wälzt.

19 Kilometer lang, Stossstange an Stossstange, war teilweise der Stau am Nordportal des Gotthardtunnels an den vergangenen Ostern. Und die Entwicklung der Staustunden kennt – mit Ausnahme des coronabedingten Einbruchs – nur eine Richtung: nach oben.

Doch damit soll jetzt Schluss sein. Wer durch den Gotthard will, soll in Zukunft eine genaue Durchfahrtszeitpunkt reservieren. Ein solches Zeitslot-System soll die Staustunden drastisch reduzieren und die Belastung von Mensch und Umwelt auf ein erträgliches Mass mindern. 

 

Doch das Bundesamt für Strassen (Astra) macht dem Kanton Uri einen Strich durch die Rechnung. Es lässt an der Zeitslot-Idee kaum ein gutes Haar. «Wir nehmen zur Kenntnis, dass es die Standesinitiative gibt», heisst es etwas schmallippig beim Bundesamt. Dann folgt eine geballte Ladung an Argumenten, warum die Idee der Urner nicht umsetzbar sei. 

Doch FDP-Landrat Ludwig Loretz, der Verfasser der Standesinitiative, lässt sich nicht entmutigen und hält tapfer dagegen. Nachfolgend die fünf wichtigsten Argumente im Schlagabtausch.  
 

1. Wie soll der Zeitslot eingehalten werden?

Astra: Zentral bei einem Reservationssystem ist es, dass der gebuchte Slot auch eingehalten werden kann. Dies kann in der Praxis des individuellen Strassenverkehrs nicht garantiert werden. Bereits auf der Zufahrt zur Gotthardroute können Staus, Pannen oder Unfälle zu Verzögerungen führen, die ein Einhalten des gebuchten Slots verunmöglichen.

Loretz: Selbstverständlich können im Strassenverkehr Unsicherheiten entstehen. Generell muss man aber vom Normalfall ausgehen. Praxisbeispiel: Ich bin in zwei Tagesetappen von Andermatt nach Südtirol gefahren. Bei den jeweiligen Tagesetappen Andermatt–Innsbruck und Innsbruck–Meran war die Ankunftszeit maximal fünf bis sieben Minuten von der ursprünglich errechneten Ankunftszeit abgewichen. Der Slot, den wir anstreben, soll aber aus einem Zeitfenster von 60 Minuten bestehen. Eine kleine Verspätung fällt also nicht ins Gewicht.

Bewertung Beobachter: Moderne Navigationsgeräte mit Zugang zu aktuellen Verkehrsdaten berechnen die Ankunftszeiten heute tatsächlich erstaunlich genau. Deshalb: Punkt für Loretz. 

2. Wo sollen die Autos warten?

Astra: Um Fahrzeuge mit Slot von denjenigen ohne gebuchten Slot zu trennen, muss der Verkehr selektiert werden. Fahrzeuge, die zu früh ankommen, müssen abwarten können, ebenso Fahrzeuge, die den Slot verpasst haben. Wo sollen diese Fahrzeuge abgestellt werden, wo sollen Fahrzeuge ohne Buchung «anstehen», und wie wird sichergestellt, dass jeweils das Fahrzeug mit dem nächsten gebuchten Slot den Warteraum verlässt? Diese Flächen sind nicht vorhanden und dürften auch kaum realisierbar sein.

Loretz: Die Warteräume sind in der Tat ein grosser Knackpunkt. Man muss sich aber einfach vor Augen halten, dass in der jetzigen Situation der Warteraum die Autobahn ist. Das kann es ja wohl auch nicht sein! Im Vorfeld des Projekts der Sanierung Gotthard-Strassentunnel wurde auch ein Bahnverlad diskutiert. Dazu mussten ja auch Warteräume ausgeschieden sein. Grundsätzlich ist dies ein Teil der Machbarkeitsüberprüfung, die die Standesinitiative anstösst. 

Bewertung Beobachter: Loretz gesteht das Problem ein. Deshalb: Punkt für das Astra. 

3. Kann wirklich kontrolliert werden?

Astra: Eine Kontrolle und Identifikation, ob tatsächlich die Person den Slot benutzt, die ihn auch gebucht hat, ist sehr schwierig, namentlich unter dem Aspekt des Datenschutzes. Die damit verbundenen Kontrollen und Ahndungen würden weitere Verkehrsflächen beanspruchen und den Verkehrsfluss zusätzlich beeinträchtigen.

Loretz: Der Slot wäre ja an ein Fahrzeug, das heisst an eine Autonummer, gebunden. Befährt ein Fahrzeug ohne Slot den Tunnel, ist ja die Nummer registriert, und der Verstoss kann mit einer Busse geahndet werden. Die Klebeetikette wird durch eine elektronische Autobahnvignettte ersetzt, die auch ans Nummernschild gebunden ist. Mit grosser Wahrscheinlichkeit sind da Synergieeffekte vorhanden.

Bewertung Beobachter: Das Argument mit der Autobahnvignette scheint überzeugend. Deshalb Punkt für Loretz. 

4. Droht eine geringere Effizienz bei der Nutzung der Autobahn?

Astra: Jedem Slot müsste eine gewisse Toleranzzeit eingeräumt werden, und es gäbe wohl eine erhebliche Anzahl Slots, die zwar gebucht, aber letztlich nicht genutzt würden. Die Folge wäre eine insgesamt weniger effiziente Nutzung der vorhandenen Strasseninfrastrukturen, eine sinkende Anzahl Durchfahrten durch den Gotthard-Strassentunnel mit noch längeren Wartezeiten und einer schlechteren Erreichbarkeit des Tessins.

Loretz: Für gebuchte, aber nicht benutzte Slots könnte eine Administrativgebühr erhoben werden. Bei verspätet wahrgenommenen Slots entfällt dies, weil ja das Nummernschild bei den verschiedenen Kontrollstellen registriert wird. 

Bewertung Beobachter: Die Steuerung durch Strafgebühren kann funktionieren. Wollen wir aber wirklich immer mehr Strafmöglichkeiten? Deshalb: je einen halben Punkt für das Astra und für Loretz. 

5. Muss der Slot garantiert werden?

Astra: Wenn der Bund ein Slotsystem anbietet, wird zu Recht von ihm erwartet, dass er die Erreichbarkeit der gebuchten Slots sicherstellen kann. Bei diesem komplexen System mit den vielfältigen und teilweise sehr weitläufigen Zufahrtsstrecken wird er das, wenn überhaupt, nur mit sehr aufwendigen und flächenintensiven Vordosierstellen erreichen können.

Loretz: Da das Slotsystem zumindest in der ersten Phase kostenlos wäre, sehe ich keine unmittelbare Verpflichtung des Bundes. Es geht ja primär darum, den Verkehr besser zu steuern. Wenn die Axenstrasse gesperrt ist und ich den Umweg über Luzern in Kauf nehmen muss, werde ich ja auch nicht entschädigt. Verkehr, nicht nur auf der Strasse, sondern auch auf der Schiene und zu Luft, ist immer mit Unsicherheiten behaftet.

Bewertung Beobachter: Solange der Slot nichts kostet, überzeugt das Argument von Loretz. Ob das aber so bleibt, ist fraglich. Deshalb: halber Punkt für beide. 

Im Schlagabtausch der besseren Argumente gewinnt Loretz in der Bewertung des Beobachters mit einem Punkt knapp vor dem Astra. Der Automobil-Club der Schweiz lehnt das Vorhaben ab. Auch der TCS ist nicht überzeugt: «Wir sehen keinen Grund, für den Gotthard vom verfassungsrechtlichen Grundsatz der gebührenfreien Nutzung öffentlicher Strassen abzuweichen. Vielmehr muss mit Verkehrsmanagement-Massnahmen gearbeitet werden», teilt die Medienstelle mit.  

Und wie stehen die Chancen im Parlament? Mitglieder der beiden Verkehrskommissionen äussern sich differenziert. SP-Nationalrat Matthias Aebischer hegt für den Vorstoss der Urner «grosse Sympathien», sieht aber ein klassisches Mautsystem als die bessere Lösung. «Das unbeschränkte Fahren auf Schweizer Autobahnen mit der 40-Franken-Vignette ist im Vergleich zum Ausland viel zu günstig», so Aebischer. 

SVP-Nationalrat Walter Wobmann lehnt das Slotsystem ab: «Ich teile die kritische Analyse des Astra.» Der Luzerner Grünen-Nationalrat Michael Töngi will die Idee vertieft prüfen. «Eines muss dabei aber gesichert sein: Der Stau darf nicht einfach verschoben werden, egal ob nach Nidwalden, Luzern oder anderswo.»