Der Titel ihres Buchs klingt, als ob wir Menschen endgültig die Kontrolle über unsere Körper übernehmen. «Wir können unsere Gene steuern!» heisst das Werk von ETH-Professorin Isabelle Mansuy. Die Neurowissenschaftlerin beschreibt unter Überschriften wie «Wir sind mehr als unsere Gene» und «Das Genom ist kein unabwendbares Schicksal», wie sie das noch recht junge und extrem kontroverse Forschungsgebiet sieht: die Epigenetik. In dieser Disziplin geht es um die Frage, ob und wie wir unsere Gene aktivieren und deaktivieren können.

Dass dieser Prozess existiert, ist unstrittig. Aber ob wir ihn beeinflussen können und ob sich Lebenserfahrungen quasi in unser Genom einschreiben und dann auf die kommenden Generationen übertragen lassen – darüber gehen in der Wissenschaft die Meinungen auseinander.

Nach hergebrachter Lehrmeinung werden Merkmale nur durch den Buchstabencode der Gene auf die nächste Generation übertragen. Für Änderungen bedarf es einer Mutation der DNA. Wenn man eine erbt, dann muss man eben mit ihr leben. Mansuy und einige Kollegen dagegen erklären, dass nicht nur die Gene, sondern – zumindest teilweise – auch deren Aktivitätsmuster weitergegeben werden. Sie werden durch chemische Modifikationen an der DNA bestimmt, sind umkehrbar – und damit auch vom Individuum selbst veränderbar, so ihre These.

Gespeicherte Erfahrungen

«Ob positiv oder negativ: Unsere Lebenserfahrungen können sich in unserem Körper und unserem Geist festsetzen. Darüber hinaus können sie sich auch auf unsere Kinder und Enkel auswirken – durch das biologische Erbe, das wir in unseren Keimzellen übertragen», schreibt Mansuy. Ihre Position gründet zum einen auf Bevölkerungsstudien. Im Winter 1944/45 gab es in den Niederlanden eine verheerende Hungersnot. Später zeigte sich, dass Kinder von Müttern, die in dieser Zeit schwanger waren, als Erwachsene ein erhöhtes Risiko hatten, fettleibig zu werden und Herzkranzgefässerkrankungen zu entwickeln. Sogar für die Enkel bestand ein erhöhtes Risiko. «Was unsere Eltern essen, hat einen Einfluss auf das Epigenom – auf unseres und wahrscheinlich auch auf das unserer Kinder», folgert Mansuy.

In ihrem Buch stellt sie folgerichtig auch eine epigenetische Diät vor – um damit Körper und Geist zu formen sowie Kindern und Enkeln gutes Erbmaterial zu hinterlassen. Sie besteht im Wesentlichen aus der mediterranen Ernährung plus einigen Zusätzen, die für die epigenetischen Veränderungen, vor allem für die Methylierung der DNA, notwendig sind. Darunter Quellen für die essenzielle Aminosäure Methionin (etwa Paranüsse, Fleisch, Parmesan und Gruyère), für Folsäure (Nährhefe, Leber, Eigelb) und für Cholin (Leber, Eier, Fisch). 

Mansuy empfiehlt auch, Broccoli zu essen. Dessen Inhaltsstoffe blockierten Methylierungen, die schädlich seien und bei Dickdarm- und Brustkrebs eine Rolle spielten. «Ziel war nicht, eine revolutionäre Diät zu entwickeln, sondern Erklärungen zu geben, warum bestimmte Lebensmittel gesund sind», sagt Mansuy im Gespräch. «Wann immer es geht, sollte man Bioprodukte konsumieren, denn Pestizide können das Epigenom schädigen.»

«Dass es magische Lebensmittel gibt, die das Epigenom überschreiben, ist Wunschdenken.»

Dirk Schübeler, Genomforscher

Dass Rückstände von Pestiziden nicht gesund sind, wird kaum bestritten. Aber eine epigenetische Diät zu propagieren, halten andere Forscher für verfrüht. «Dass es magische Lebensmittel gibt, die das Epigenom überschreiben, ist Wunschdenken», sagt Dirk Schübeler. Der Direktor des Friedrich-Miescher-Instituts (FMI) für biomedizinische Forschung in Basel untersucht die Methylierung der DNA. «So etwas zu propagieren, ist für mich Geldmacherei.»

Schübeler interpretiert auch die Ergebnisse der Studien zu den Auswirkungen des niederländischen Hungerwinters anders als Mansuy. «Im ungeborenen Kind werden während der Schwangerschaft auch schon die Keimzellen angelegt. Das bedeutet, dass Zellen dreier Generationen direkt dem Hunger ausgesetzt waren – Mutter, Kind und bereits in Vorstufen angelegte Keimzellen im Kind für die nächste Generation.» Die Zellen könnten dadurch direkt geschädigt worden sein, eine epigenetische Vererbung sei für das Phänomen nicht notwendig. «Wir achten heute zu Recht sehr darauf, dass Schwangere sich vollwertig ernähren, weil wir wissen, dass eine mangelhafte Versorgung dramatische Konsequenzen für die Nachkommen haben kann.»

Vererbte Traumata

Isabelle Mansuy stützt ihre Argumente auch auf eigene Experimente. An Mäusen untersucht sie, wie sich Traumata auf die Epigenetik auswirken und ob sie sich vererben. «Wenn wir Nachkommen traumatisierter Mäuse so aufziehen, dass sie nie Kontakt haben zu ihren Eltern und Grosseltern, zeigen sie trotzdem die Traumasymptome ihrer Eltern», sagt Mansuy im Gespräch. Diese Symptome waren: erhöhte Risikofreudigkeit, unsoziales und depressives Verhalten.

Bei Menschen lässt sich die umstrittene Vererbung der epigenetischen Veränderungen allerdings sehr viel schlechter untersuchen – selbst eineiige Zwillinge machen so unterschiedliche Erfahrungen im Leben, dass es schwer möglich ist, einzelne als Ursache auszumachen. Allerdings können auch hier Studien wichtige Hinweise geben. So untersucht Mansuy etwa das Sperma von Männern aus Pakistan, die ein Trauma erlitten haben, und vergleicht es mit demjenigen von Männern, die keine solch einschneidenden Erlebnisse hatten. «Einige epigenetische Marker waren genauso verändert wie in unseren traumatisierten Mäusen», beschreibt sie die Studie, die noch nicht veröffentlicht ist, aber dem Beobachter vorliegt.

Mansuy ist überzeugt, dass das traumatische Verhalten durch RNA-Moleküle ausgelöst wird. RNA ist eine Art von Erbsubstanz, die im Gegensatz zur DNA instabil ist und von der erst seit wenigen Jahren bekannt ist, dass sie im Zellkern regulatorische Funktionen übernimmt. In einer 2018 im Fachblatt «Molecular Psychiatry» veröffentlichten Studie beschrieben Mansuy und Kollegen, wie sie die RNA aus Sperma von traumatisierten Mäusen in befruchtete Eizellen injizierten – und die Nachkommen daraufhin Symptome von Traumata entwickelten, ohne je einem solchen ausgesetzt gewesen zu sein. «Die Sperma-RNA reicht aus, um die Symptome in Nachkommen auszulösen», sagt Mansuy.

«Für mich ist es plausibel, dass epigenetische Merkmale begrenzt vererbt werden können.»

Thomas Jenuwein, Molekularbiologe

Nicht alle Forscherkollegen sind überzeugt. «Um stressassoziiertes Verhalten in den Nachkommen über RNA auszulösen, müssten diese Moleküle über die gesamte Entwicklung der Tiere stabil bleiben und sich schliesslich im Gehirn ausprägen – ich erachte dies als sehr unwahrscheinlich», sagt Marc Bühler, der am FMI in Basel über regulatorische RNA forscht. «Ausserdem fehlen der Maus wichtige Enzyme, die zum Beispiel in Pflanzen und Hefen essenziell sind, um mittels RNA epigenetische Veränderungen hervorzurufen.»

Unbekannter Mechanismus

Andere Wissenschaftler sehen das anders. «Ich finde, diese Studie ist gut gemacht», sagt Thomas Jenuwein, Direktor am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg im Breisgau. «Diese RNA sind kleine Moleküle, von denen man sich vorstellen kann, dass sie von Zelle zu Zelle übertragen werden.» Bewiesen sei dies allerdings noch nicht – und der genaue Mechanismus sei unbekannt. «Für mich ist es aber plausibel, dass epigenetische Merkmale begrenzt vererbt werden können», sagt der Pionier des Fachgebiets. «Ich bin da auf Seiten von Isabelle Mansuy.»

Es bleibt das Bild eines umstrittenen Fachgebiets – und der Visionärin Isabelle Mansuy, die in ihrem Buch mit ihren Ratschlägen wohl über das hinausgeht, was bereits bewiesen ist. Selbst Kritiker ihrer Arbeit wünschen ihr aber Erfolg. «Ich würde mich freuen, wenn ihre Ergebnisse bestätigt würden», sagt Marc Bühler vom Friedrich-Miescher-Institut.

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