Das Wallis hat grosse Pläne. Es will in den nächsten Jahren die «Alpenbatterie der Schweiz» werden: Geplant ist zum Beispiel eine 90 Meter hohe Talsperre beim Ferpècle-Gletscher, ein 54-Meter-Damm beim Haut Glacier d’Arolla und ein 40 Meter hohes Stauwerk beim Allalingletscher.

Die drei Grossprojekte stehen auf einer Liste mit 32 neuen Kraftwerken, die am Runden Tisch der abtretenden Energieministerin Simonetta Sommaruga geprüft und als machbar eingestuft wurden. Unter der Leitung des Bundesamts für Energie (BFE) hatten Kantone, Wasserwirtschaft und Umweltschutzorganisationen während eineinhalb Jahren Lösungen für einen massiven Ausbau der Wasserkraft diskutiert.

Beobachter verlangte Einsicht

Bekannt war bisher bloss, dass man sich auf 15 Projekte verständigt hatte: auf den Bau von vier neuen Stau- und Speicherseen und die Erhöhung von elf Staumauern. Ausmass und Eckdaten der Projekte wollte das BFE geheim halten – ebenso die restlichen Projekte auf der Liste. Dagegen hat sich der Beobachter gewehrt – und jetzt recht bekommen.

Nach einer Schlichtungsverhandlung beim Eidgenössischen Datenschützer und Öffentlichkeitsbeauftragten musste das Bundesamt das Dossier offenlegen. Jetzt ist endlich klar, was der Bund alles plant.

Monatelang hatte sich das ­Bundesamt dagegen gewehrt, die Pläne ­offenzulegen.

Neben den umstrittenen Projekten am Grimsel, beim Trift- und beim Gornergletscher soll etwa der Damm beim Lac des Toules im Wallis um 32 Meter erhöht werden. Und oberhalb von Binn soll neben einer 120 Meter hohen neuen Staumauer ein Stollennetz über Dutzende von Kilometern entstehen – vom Chummensee über Ernen bis nach Mörel und zum Massaboden. Diese Projekte auf der 15er-Liste haben erste Priorität. 

Daneben hat der Runde Tisch weitere 17 Projekte evaluiert. Dazu war bisher gar nichts an die Öffentlichkeit gelangt. Monatelang hatte sich das Bundesamt dagegen gewehrt, die Pläne offenzulegen. Es sind die Ersatzprojekte für den Fall, dass ein Teil der favorisierten 15 Projekte nicht realisiert werden kann.

Nun wird bekannt: Es geht um drei Stauseen im Wallis, vier Erhöhungen von Staumauern und diverse neue Flusskraftwerke, vorwiegend im Bündnerland, sowie um Druckstollen und Pumpspeicher. Betroffen sind ausserdem die Kantone Bern und Freiburg.

Biologisch nahezu tot

Viele der 32 Wasserkraftprojekte ziehen Schutzgebiete in Mitleidenschaft. Denn Stauseen im Gebirge sehen zwar idyllisch aus, biologisch sind sie aber nahezu tot, da sie regelmässig geleert werden. Zudem werden wertvolle Naturlandschaften und Gewässerbiotope überflutet und zerstört.

Auch die Bäche und Flüsse unterhalb der Stauseen wären betroffen. Weil dort die Pegelstände stark schwanken, gibt es darin schon jetzt nur wenig Leben. Nun sollen auch noch die Restwasservorschriften gelockert werden. Sprich: Für die Stromproduktion kann noch mehr Wasser abgeschöpft werden.

Nachdem der Ausbau der Solarenergie verschlafen wurde, soll die Wasserkraft für etwas mehr Versorgungssicherheit sorgen – auf Kosten der Natur.

Es scheint fast, dass wegen der drohenden Energiekrise alle Dämme gebrochen sind und die Biodiversität Melioration vs. Artenvielfalt Die ewige Zweite für die Energieversorgung geopfert werden soll. Nachdem der Ausbau der Solarenergie verschlafen wurde, soll die Wasserkraft für etwas mehr Versorgungssicherheit sorgen – auf Kosten der Natur.

Plötzlich soll nun alles schnell gehen. Die 15er-Liste des Runden Tischs soll nach dem Willen des Ständerats im Anhang zum neuen «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung» verbindlich aufgeführt werden. Ein Novum. Verschiedene Rechtsfachleute beurteilen den Vorgang als rechtswidrig; geltende Bewilligungsverfahren würden ausgehebelt und die Kompetenzen der Kantone empfindlich eingeschränkt.

Umstritten ist auch: Falls mit dem neuen Gesetz die Spar- und Ausbauziele nicht erreicht oder einzelne Projekte nicht realisiert werden, soll der Bundesrat die Liste im Eilverfahren mit neuen Projekten ergänzen können – um so «den Ausbau erneuerbarer Kraftwerke [zu] intensivieren» –, wie es im aktuellen Entwurf heisst. Er soll dann auf die bisher geheim gehaltene 17er-Liste zurückgreifen können.

Grosser Einfluss der Stromlobby

Der Kompromiss des Runden Tischs soll damit noch grösseres Gewicht erhalten – und das, obwohl er auf fragwürdige Art zustande gekommen ist, wie sich bei der Akteneinsicht in Bern zeigte:

  • Die Berechnungen basieren primär auf Selbstdeklarationen der Energiekonzerne. Sie haben jene Projekte gepusht, die für sie am rentabelsten sind. Kleinere Bauten, die seit Jahren bewilligt wären, wurden gar nicht berücksichtigt (etwa das Pumpspeicherwerk Grimsel 3) oder als zweitrangig aufgeführt (der Pumpspeicher Lago Bianco).
  • Zur Beurteilung der Projekte wurden fünf Varianten ausgearbeitet. Benutzt wurde jene Variante, bei der die von den Energiekonzernen favorisierten Grossprojekte am besten abschnitten. Das war nur möglich, weil die ursprünglich gewählte Methode kurz vor Ende der Abklärungen radikal verändert wurde. Namhafte Fachleute wie Bernhard Wehrli, langjähriges Direktionsmitglied des ETH-Wasserforschungsinstituts Eawag, sprechen deshalb von einem «vermasselten Verfahren» (siehe «Mit welchen Tricks die Liste der 15 Stauseen zusammenkam» ).
  • Der Methodenbeschrieb wurde erst drei Monate nach Publikation der Ergebnisse verfasst. Kein Amt und auch keine mitarbeitende Person wollte das umstrittene Dokument unterzeichnen – ein unüblicher Vorgang in Bundesbern.

Das alles wollte Sommarugas BFE unter dem Deckel halten. An der vom Beobachter angestrengten Schlichtungsverhandlung beriefen sich beide Juristen des BFE auf sogenannte Vertraulichkeits-Abmachungen mit den Energiekonzernen. Nur so liessen sich deren Geschäftsgeheimnisse schützen. Ein eigenartiges Argument, denn am Runden Tisch sassen mehrere Konkurrenten und hatten Zugang zu den Informationen. An der Schlichtungsverhandlung konnte das BFE auch nichts Schriftliches vorweisen, das seine Behauptung gestützt hätte: weder eine Vereinbarung noch ein Protokoll oder eine E-Mail.

Martin Stoll, Geschäftsführer von Oeffentlichkeitsgesetz.ch, sagt dazu: «Es ist stossend, wenn eine Behörde das Öffentlichkeitsprinzip mit Vertraulichkeits-Abmachungen austrickst. Ein solcher Pakt muss die absolute Ausnahme sein und laut geltender Praxis schriftlich getroffen werden.»

Noch immer hat das Bundesamt für Energie nicht alle Unterlagen offengelegt. Nick Röllin vom Grimselverein hat daher auf der Basis der veröffentlichten Unterlagen eigene Berechnungen angestellt. Danach richten die grossen Projekte Trift, Chummen, Gorner und Grimsel die mit Abstand grössten Umweltschäden an.

Kritik an Berechnungen des Bundes

So würde zum Beispiel gemäss Röllin der Grimselsee nach der Erhöhung der Staumauer zwar über viermal mehr Speicherpotenzial verfügen als die projektierte Erhöhung des Mattmarksees – das Projekt sei aber mit 54-mal mehr Umweltbeeinträchtigungen verbunden. Der geplante Triftstausee belaste die Umwelt 118-mal, der neue Stausee Gorner 225-mal stärker. «In Anbetracht solch katastrophaler Nutzen-Schaden-Verhältnisse von umweltverträglichen Projekten zu reden, ist ein Hohn», bilanziert Röllin.

Die zuständige Nationalratskommission wird das neue Gesetz im Januar beraten und entscheiden müssen, ob sie die umstrittene 15er-Liste darin festschreiben will. Der Experte Bernhard Wehrli meint dazu, nachdem er jetzt Einblick in die Unterlagen des Runden Tischs hatte: «Die geplante Gesetzgebung steht auf wackligen Beinen.»

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