Wie ein Fremdkörper steht die zierliche Frau im Wollkleid inmitten der grossen, dunklen Autos. Aus den Audis, BMWs und Geländewagen steigen Männer mit Gewehren. «Haut ab», flüstert einer. Marianne Trüb, 55-jährig, Schulleiterin, Tierliebhaberin und Mutter zweier erwachsener Kinder, hört nicht hin. Der Parkplatz, auf dem sie mit ein paar Gleichgesinnten für den Schutz der Natur demonstriert, gehört zur Jagdschiessanlage Au in Embrach. Weite Teile der Anlage befinden sich in einer bundesrechtlich geschützten Aue, direkt an der Töss. An 200 Tagen pro Jahr pilgern Jagd- und Schiessfreunde aus dem In- und Ausland hierher, um bis zu 370'000 Schuss abzufeuern. Geschossen wird auf Zielscheiben und auf fliegende Wurfscheiben, sogenannte Tontauben. Bis zu 30 Tonnen Sondermüll landen jährlich zwischen Eichen und Tannen, 250'000 Kilo Blei liegen in Wald und Fluss. Das würde theoretisch ausreichen, um 700 Millionen Kubikmeter Grundwasser zu verschmutzen.

 > 1988  wird das Gebiet, in dem seit 1965 eine Jagdschiessanlage steht, zur Naturschutzzone erklärt.

 > 1991  fragt erstmals eine Gruppe von Kantonsräten nach, wie es möglich sei, dass in einem Naturschutzgebiet Scherben, Hülsen und Bleischrot liegen gelassen werden.

In der nachfolgenden Ratsdebatte meldet sich der junge SVP-Kantonsrat und Jäger Markus Kägi zu Wort: «Gerade im Raum, der seit den sechziger Jahren mit Tontauben und Schrot beschossen wird, wachsen die Pflanzen besonders kräftig. Man muss also davon ausgehen, dass der Boden dort von besonders hoher Qualität ist.» Marianne Trüb wird hellhörig.

 > 2003  liest Trüb in der Zeitung, der Bund habe das 27 Hektaren grosse Gebiet um die Jagdschiessanlage zu einem Auenschutzgebiet von nationaler Bedeutung erhoben; es ist einer der wenigen verbliebenen natürlichen Flussabschnitte im Kanton Zürich. «Bald kehrt Ruhe ein», denkt Trüb, denn die Auenverordnung fordert den Erhalt und die Förderung der auentypischen einheimischen Pflanzen- und Tierwelt sowie die Verbesserung der Wasser- und Bodenqualität. Innerhalb von drei Jahren soll der Kanton dafür ein Konzept erstellen.

Im selben Jahr wird Marianne Trüb für die SP in den Zürcher Kantonsrat gewählt. Dort fragt sie nach, wie es der Natur beim Schiessstand gehe. In der Antwort des Regierungsrats steht: «Von den rund 3,5 Tonnen Schrot, die pro Jahr verschossen werden, landen schätzungsweise 500 bis 1000 Kilogramm in der Töss.» Auf einer Fläche von rund 18,6 Hektaren seien in Bodenproben Bleikügelchen in einer Konzentration von bis zu 3,9 Kilogramm pro Quadratmeter gefunden worden. Der Bleischrot führe zu einer Erhöhung des Bodengehalts an Blei, Arsen und Antimon.

 > 2004  wird weiterhin geschossen. 33,1 Tonnen Wurfkörper landen in diesem Jahr im Wald. Sechs Tonnen sammeln die Schützen jeweils wieder ein und entsorgen sie in einer Reaktordeponie. In den bewaldeten Bereichen bleiben Scheiben und Scherben liegen. Die Jagdgesellschaft erklärt, sie verzichte seit längerem freiwillig weitgehend auf bleihaltige Munition.

 > 2005  fragt Marianne Trüb erneut nach. Der Regierungsrat betont, die Jagdschiessgesellschaft suche seit Jahren nach schadstoffärmeren Wurfscheiben. Die aktuell verwendeten enthielten deutlich geringere Mengen polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe (PAK) als die bisher benutzten. PAK können das Erbgut schädigen, Krebs erzeugen oder die Fortpflanzung und die Entwicklung des Fötus beeinträchtigen. Eine spätere Untersuchung zeigt: Die neuen Scheiben enthalten BTEX-Kohlenwasserstoffe. BTEX kann zu Leber- und chronischen Nervenschäden führen.

 > 2006  wendet sich Marianne Trüb an den WWF, Pro Natura und die Vogelschutzorganisation Birdlife. Sie stösst auf Verständnis – aber mitkämpfen will niemand. Da habe sie zum ersten Mal eine gewisse Ohnmacht verspürt, sagt Trüb heute. Eine «Demokratieverdrossenheit». «Wer sonst dürfte im Wald giftigen Abfall deponieren?», fragt sie. «Die Pfadi? Jugendliche?»

 > 2007  wird der Mann, der 1991 im Kantonsrat verlautet hat, Bleischrot und Wurfscheiben erhöhten die Bodenqualität, in den Regierungsrat gewählt: SVP-Politiker Markus Kägi ist ab sofort für das Dossier der Jagdschiessanlage zuständig. Dem passionierten Jäger, der selber regelmässig in der Au trainiert, liegt die Ausbildung der Zürcher Jäger am Herzen. Regelmässiges Schiesstraining sei für die Jagdprüfung unerlässlich, darum müsse der Kanton ein geeignetes Trainingsgelände zur Verfügung stellen. Als Leiter der Baudirektion steht Kägi auch dem Amt für Landschaft und Natur vor und dem AWEL, dem Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft.

Im selben Jahr verliert Marianne Trüb ihren Sitz im Kantonsrat.

> 2008  erkennt Marianne Trüb bei sich selber «Kampfhundqualitäten». Wenn sie sich einmal festgebissen habe, lasse sie nicht mehr los. Im September findet in der «Traube» in Dättlikon die Gründungsversammlung des Vereins Pro Töss-Auen statt. Dessen Ziel: «Die sofortige Schliessung der Jagdschiessanlage Au in Embrach.» Mittlerweile hat der Verein 70 Mitglieder. Gründungsmitglieder sind Marianne Trüb, ihr Ehemann, ihre erwachsene Tochter sowie 20 weitere Umweltaktivisten.

> 2009  empfängt Markus Kägi Marianne Trüb und eine Delegation des neugegründeten Vereins in seinem Büro. Das Gespräch verläuft ergebnislos. Kägi betont, die Jägerausbildung habe für den Kanton Zürich höchste Priorität. Jagdschiessanlagen gehörten zur öffentlichen Infrastruktur, und der Kanton müsse sie bereitstellen wie Spitäler und Schulhäuser.

Im selben Jahr erscheint ein durch die Baudirektion in Auftrag gegebener Statusbericht.

Die Untersuchung geht aufgrund vorsichtiger Berechnungen von 200 bis 250 Tonnen Blei und 500 bis 600 Kilo des hochgiftigen Halbmetalls Antimon aus, die auf dem Areal lagern. Dazu kommen 10 bis 24 Tonnen polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe. Die schädlichen Substanzen stammen aus den Tonscheiben, die zu Tausenden verschossen wurden. Analysen des Grundwassers zeigen massive grossflächige Belastungen. «Geht man theoretisch davon aus, dass die gesamte in der Au liegende Bleimenge mit der Zeit komplett in Lösung gehen würde», schreiben die Experten, «würde die Menge ausreichen, um 700 Millionen Kubikmeter Grundwasser sanierungsbedürftig werden zu lassen.»

> 2010  schreibt der Regierungsrat in einem Protokoll: «Das Umweltschutzgesetz des Bundes verlangt, dass Grundwasserschutzzonen bis 2012 saniert werden. Nur wenn ab 31. Dezember 2012 in diesen Gebieten keine Abfälle mehr deponiert werden, beteiligt sich der Bund an den Kosten der Sanierung.»

 > 2011  fordert der Verein Pro Töss-Auen den Gesamtregierungsrat schriftlich auf, Baudirektor Kägi das Dossier der Jagdschiessanlage zu entziehen. Er sei als Nutzer der Anlage befangen. Dem Anliegen wird nicht stattgegeben. Auf Jagdportal.ch machen sich Jäger Luft: «Es ist schon zum Kotzen, was sich da gewisse links-grüne SP-Pseudonaturschützer erlauben!» Später taucht im Internet ein Bild auf: Marianne Trübs Haus im Zentrum einer Zielscheibe.

 > 2012  reicht der Verein Pro Töss-Auen beim Regierungsrat eine Aufsichtsbeschwerde gegen die kantonalen Behörden ein. Er blitzt ab.

 > Im März 2013  werden in der Au weiterhin Abfälle deponiert. Die Bundesgelder für die Sanierung werden trotzdem kommen. Die zur Debatte stehenden Grundwasserschutzzonen wurden als solche aufgehoben.

 > Im Mai  2013  reicht der Verein Pro Töss-Auen eine Strafanzeige gegen die Jagdschützengesellschaft Zürich ein. Der Verein hatte zuvor Wurfscheiben eingesammelt und sie in einem kantonalen Labor untersuchen lassen: Das Labor fand PAK-Werte, die die Grenzwerte um das 1000-Fache überschritten.

> Im Juni 2013  muss sich auch Bundesbern um die Embracher Schiessanlage kümmern. SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr reicht eine Interpellation ein. Fehr verlangt aus Gründen des Naturschutzes eine baldige Schliessung der Anlage. Marianne Trüb hat die Hoffnung bis heute nicht verloren. «Wir schaffen das», sagt sie, «davon bin ich überzeugt.»

 > Im Juli 2013  fordern kantonale Parlamentarier, wenigstens das Schiessen auf Wurfscheiben einzustellen. Diese Disziplin wird für die Schiessprüfung für Jägerinnen und Jäger nicht verlangt. Sie stossen auf taube Ohren.

 > Im August 2013  liegt die Antwort des Bundesrats auf die Interpellation Fehr vor. Die Landesregierung schreibt, zurzeit werde ein Sanierungsprojekt erarbeitet. 2015 sei Schluss mit Schiessen. Bloss: Die Baudirektion des Kantons Zürich hat bereits Monate zuvor bekanntgegeben, die Anlage werde voraussichtlich 2017 stillgelegt, eventuell erst 2019. Bis dann soll in einer Bülacher Kiesgrube eine neue Schiessanlage fertiggestellt sein. Inzwischen hat sich Widerstand gegen das Bauprojekt formiert. Rund 4000 Unterschriften von Anwohnern sind bereits zusammengekommen.

> Im November 2013  nimmt sich Marianne Trüb jeden Tag vor, bei der Staatsanwaltschaft nachzufragen, wie es mit der im Mai eingereichten Strafanzeige aussehe. Sie hat es bis heute nicht getan. «Vielleicht», sagt Trüb ruhig und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, «fürchte ich schlicht die Antwort.»

Hintergrund: «Sanierung erst, wenn die neue Anlage in Betrieb ist»

Ende November fragt der Beobachter bei der Baudirektion schriftlich nach: Wann wird das verseuchte Gebiet definitiv saniert? Die Antwort von Regierungsrat und Baudirektor Markus Kägi bleibt vage: «Voraussetzung für die Sanierung der Anlage in Embrach ist, dass der Schiessbetrieb ruht. Dies wiederum bedingt, dass die neue Anlage Widstud in Bülach fertiggestellt ist. Denn den Jägerinnen und Jägern im Kanton Zürich muss lückenlos eine Trainingsanlage zur Verfügung stehen, wie sie vom Gesetz gefordert ist. Der ursprünglich für 2015 ins Auge gefasste Termin für die Eröffnung der neuen Anlage verzögert sich aufgrund des Richtplanverfahrens voraussichtlich bis 2017. Erst wenn die neue Anlage in Betrieb ist, können wir mit der Sanierung beginnen.»