Das Wasser des Lago die Cadagno ist schwarz wie Pech, ab und zu zeichnet die Sonne silbern blitzende Streifen darauf. Doch die sechs Gymnasiasten und der Lehrer interessieren sich mehr für die Geheimnisse als für die Schönheit der Natur. Der Lehrer rudert die Jugendlichen zu einem Floss mitten auf dem See, alle steigen hinauf, packen Plastikflaschen aus. Sie wollen Wasserproben nehmen, um mit eigenen Augen zu sehen, was es mit dem See auf sich hat. «So geil!», entfährt es einer Schülerin, als sie die erste Flasche hochzieht. Darin wimmelt es nur so von winzigen, wild zuckenden Tierchen. Christoph Hangartner, Lehrer an der Alpinen Mittelschule Davos, lässt eine zweite Flasche hinunter. «Jetzt schnell hochziehen», weist er zwei Jungen an. Diesmal ist das Wasser in der Flasche stark rosa gefärbt, ein penetranter Geruch nach faulen Eiern verbreitet sich. Es ist offensichtlich: Mit diesem See stimmt etwas ganz und gar nicht.

«Dem Geheimnis auf die Spur gekommen sind wir in den achtziger Jahren», sagt Raffaele Peduzzi (68), Professor für Mikrobiologie an der Universität Genf. «Daraufhin haben wir beschlossen, hier oben ein Forschungszentrum einzurichten. Es sollte Wissenschaftlern offen stehen, aber auch Schulklassen aus dem In- und Ausland.» Peduzzi leitete früher das kantonale Institut für Mikrobiologie in Bellinzona. Sein ganzes Berufsleben hat er den kleinsten Organismen verschrieben: den Bakterien, Algen, Einzellern. Dem Cadagno-See gilt sein besonderes Interesse.

Der Lago di Cadagno liegt im landschaftlich reizvollen Val Piora TI auf rund 2000 Metern Höhe, in der Nähe des Piora-Stausees oberhalb von Airolo. Eine steile Zahnradbahn fährt ins Gebiet hoch. Oben angekommen, gelangt der Besucher in eine von Gletschern geformte Landschaft mit knapp 50 Seen und Teichen, fast 60 Bächen, 15 kleinen Mooren und einigen idyllischen Alpweilern.

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Quelle: Reto Albertalli
Staudamm-Arbeitern wurde übel

Dass es mit dem Cadagno-See etwas Besonderes auf sich haben muss, bemerkten Forscher Anfang des 20. Jahrhunderts. Nur wussten sie noch nicht, was genau dahintersteckt. Der Piora-See zeigte damals ähnliche Anomalien: Bei den Bauarbeiten für den Staudamm zur Zeit des Ersten Weltkriegs beklagten sich immer wieder Arbeiter über den seltsamen Gestank, bekamen Kopfschmerzen, wurden krank. Bald wurde klar, dass ein Teil des Wassers beider Seen stark schwefel- und bakterienhaltig war. Heute zeigt nur noch der Cadagno-See dieses natürliche Phänomen.

«Das Besondere am See ist, dass er aus drei speziellen Schichten besteht, die sich nie durchmischen», sagt Experte Raffaele Peduzzi. In der Fachsprache heisst das geogene Meromixis. Im ganzen Alpenbogen ist der Lago di Cadagno der einzige See, der dieses Phänomen zeigt: «Nur in Sizilien und in Sibirien sind derzeit noch solche Seen bekannt.»

In der obersten Schicht ist das Wasser klar und sauerstoffreich, Myriaden von kleinen Tierchen und Algen tummeln sich darin. Auch Tausende von Fischen gedeihen hier prächtig: Bis zu 30 Kilogramm pro Hektare ziehen die Fischer jährlich heraus, sechsmal mehr als aus einem normalen Bergsee. In den Tiefen aber findet sich eine gelblich gefärbte Todeszone: Das Wasser ist sauerstofffrei, stark schwefelhaltig und reich an verschiedenen, teils toxischen Salzen. «Wenn Sie einen Fisch in dieses Wasser geben», sagt Raffaele Peduzzi, «dann stirbt er nach wenigen Minuten.» Dafür haben sich hier archaische, wissenschaftlich interessante Bakterien angesiedelt, die ohne Sauerstoff wachsen. Sie ernähren sich von Sulfat, das sie zu Schwefelwasserstoff reduzieren.

Quelle: Reto Albertalli

Schülerinnen und Schüler aus Davos und Holland entnehmen Proben aus verschiedenen Tiefen des Lago di Cadagno.

Quelle: Reto Albertalli

Das rosa gefärbte Wasser im unten stehende Bild stammt aus der schwefligen Zwischenschicht.

Quelle: Reto Albertalli
Die rosa Zone ermöglicht Leben

Noch spezieller aber ist die rosafarbene, etwa anderthalb Meter dicke Zwischenschicht, die das giftige Wasser vom sauberen trennt. Sie befindet sich auf rund elf Metern Tiefe und beheimatet zahllose rote Schwefelbakterien. «Sie beziehen von oben das Licht und von unten den Schwefelwasserstoff, den sie zum Leben brauchen», sagt Peduzzi. «Zudem filtern sie die toxischen Stoffe aus dem Unterwasser und ermöglichen so erst das Leben in der darüberliegenden Zone.»

Das natürliche Phänomen des Cadagno-Sees erinnert an den Kivu-See in Afrika, der oft als «Killersee» betitelt wird. Auch in dessen Tiefen lauert eine Todeszone, die allerdings nicht nur für Wasserorganismen, sondern auch für den Menschen eine reelle Gefahr darstellt. Riesige Mengen an Kohlendioxid und Methan sind in der untersten Schicht gelöst. Die unter hohem Druck stehenden Gase stammen ebenfalls von Bakterien, aber auch aus vulkanischer Aktivität. Die Gefahr besteht, dass sie irgendwann in Form von grossen Blasen unkontrolliert an die Oberfläche steigen und sich unbemerkt über die Ufer ausbreiten − Hunderttausende von Menschen könnten ersticken. 1986 ereignete sich ein solcher Gasausbruch am Nyos-See in Kamerun; er tötete 1800 Menschen. Deshalb wurde am Kivu-See jüngst eine Anlage gebaut, die die gefährlichen Gase aus dem Wasser scheiden soll. Sie hat einen doppelten Nutzen: Aus dem Methan wird Energie für ganze Städte gewonnen.

Quelle: Reto Albertalli

Raffaele Peduzzi, Professor für Mikrobiologie

Verbindung zum Gotthardtunnel

Am Cadagno-See bringen die Schüler ihre Proben ins Labor des Forschungszentrums der Stiftung Centro Biologia Alpina. Dieses ist in drei Alpgebäuden aus dem 16. Jahrhundert untergebracht, die hochmodern eingerichtet sind. Derzeit wird es von angehenden Chemielaboranten der Berufsschule Luzern und von Gymnasiasten der Schweizerischen Alpinen Mittelschule Davos benutzt. Auch Schüler eines holländischen Elitegymnasiums sind dabei.

Hochmotiviert führen die 18-Jährigen ihre Wasseranalysen durch. Andere versuchen, gefangenes Plankton zu bestimmen. Besonders spannend sind die millimeterkleinen, durchsichtigen Ruderkrebschen. Unter dem Mikroskop ist gut zu erkennen, dass ihr Darm prall gefüllt ist mit roten Schwefelbakterien. «Wenn man die Krebschen mit den Bakterien in ein Glas gibt, sieht man, wie die Tierchen über sie herfallen», sagt Lehrer Christoph Hangartner. «Das ist ein riesiges Fressgelage.» Auch filigrane Kieselalgen kommen zum Vorschein: kantige, spitzige oder ovale Organismen, die sich ein Skelett aus Siliziumdioxid zugelegt haben. Daneben finden sich Blaualgen, Rädertierchen, Dinoflagellaten − ein ganzes Universum tut sich auf.

Derweil eilt Professor Peduzzi durch die Räume, auf der Suche nach Schautafeln. Er will erklären, wie die spezielle Schichtung des Cadagno-Sees zustande kam. Für das Phänomen verantwortlich ist die Dolomit-Ader der sogenannten Pioramulde. Sie bereitete vor einigen Jahren den Ingenieuren des Gotthard-Basistunnels schlaflose Nächte, weil sie befürchteten, die Zone stehe unter hohem Wasserdruck. Beim Cadagno-See ist die Ader für den hohen Schwefel- und Salzgehalt der untersten Zone verantwortlich. Unterirdische Wasseradern waschen die Substanzen unentwegt aus dem porösen Dolomit, spülen sie über unsichtbare Quellen am Seegrund in den Lago di Cadagno. Die oberste Wasserschicht hingegen wird von oberirdischen Bächen gespeist, die über kristallines Gestein fliessen. «Es sind eigentlich zwei komplett getrennte Seen in einem», sagt Raffaele Peduzzi.

Immer wieder neue Entdeckungen

Obwohl sein Geheimnis weitgehend geklärt ist und hier im Val Piora auch keine gefährlichen Gasausbrüche wie am Kivu-See drohen, ist der Lago di Cadagno immer wieder für Überraschungen gut. So hat ein Team um Raffaele Peduzzi kürzlich zwei neue Arten von Schwefelbakterien entdeckt. Andere Forscher nahmen vor einigen Jahren den Schlamm am Seegrund unter die Lupe. Dabei entdeckten sie, wie sich organisches Material zu Vorstufen von Erdöl umwandelt. Die wichtigste Erkenntnis war, dass die Umwandlung ganz ohne Mikroorganismen geschehen kann. Ein kleiner Schweizer See hat also wichtige Erkenntnisse darüber geliefert, wie sich in den Weltmeeren Erdöl bildet – und es damit 2006 sogar auf das Cover des Wissenschaftsmagazins «Science» geschafft. Manche Forscher gehen gar davon aus, dass im Cadagno-See Bedingungen zu finden sind, wie sie auch während der Entstehung des Lebens auf der Erde herrschten.

Als es Abend wird und die Luft kühler, steigen einige Schüler erneut in das Ruderboot; diesmal soll die Fahrt nur zum Spass sein. Murmeltiere pfeifen, ein dicker Grasfrosch hüpft das Ufer entlang. Ein einsamer Fischer wirft seine Angel aus und schielt auf die vielen Fische, die Kreise ins Wasser zeichnen. Und für kurze Zeit wird der geheimnisvolle schwarze See, Anziehungspunkt für Hunderte von Wissenschaftlern, wieder zum ganz normalen Bergsee.

Wandern im Val Piora

Zahlreiche Wanderwege und ein Naturlehrpfad sind ausgeschildert. Mehrere Restaurants und Hütten bieten Verpflegung an. Dem Forschungszentrum am Cadagno-See ist eine Käserei angeschlossen. Informationen auf www.piora.org und www.ritom.ch